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Evolution: Tiere, die voneinander lernen

Die menschliche Kultur soll auf unserer in der Tierwelt einzigartigen Fähigkeit beruhen, dass wir von unseren Artgenossen mehr lernen, als wir es allein im ganzen Leben durch eigene Erfahrung könnten. Zwei Studien lassen jedoch darauf schließen, dass wir sie mit Hummeln und Schimpansen teilen.
Drei Schimpansen stehen in einer Gruppe zusammen und schauen auf einen Gegenstand in der Hand des einen Affen.

Sie und ich sind biologisch gesehen beide afrikanische Primaten, doch ich schreibe diesen Text auf einem Laptop in Cornwall, während Sie ihn vielleicht in Colombo, Caracas oder Canberra lesen. Darin spiegelt sich eine der bemerkenswertesten Eigenschaften der menschlichen Spezies wider: Wir verbreiten Innovationen, bauen auf ihnen auf und verbessern so ständig unser Können und unsere Technologien – ein Phänomen, das man als »kumulative Kultur« bezeichnet. Neuere Arbeiten beleuchten das Potenzial anderer Tiere, eine Fähigkeit zu demonstrieren, die für eine solche erforderlich sein könnte. Die eine veröffentlichten Fachleute um Alice Bridges im März 2024 in »Nature«, die zweite erschien zeitgleich in »Nature Human Behaviour« und stammt von einem Team um Edwin van Leeuwen.

Menschen verbessern kontinuierlich ihre Kulturgüter, zu denen etwa Werkzeuge und Technologien zählen. Das hat es unserer Spezies erlaubt, sich über den gesamten Globus auszubreiten, Ökosysteme zu verändern und in die entlegensten Winkel des Weltraums zu blicken. Andere Tiere zeigen zumindest im Ansatz bescheidene Formen einer kumulativen Kultur. Zum Beispiel verfeinern Brieftauben (Columba livia) die Effizienz ihrer Flugrouten, indem sie voneinander lernen. Doch die menschliche kumulative Kultur mit ihrem gigantischen Ausmaß übersteigt eindeutig alles, was in der natürlichen Welt beobachtet wurde. Warum ist das wohl so? Ein einflussreicher Erklärungsansatz geht davon aus, dass unter den Tieren nur Menschen von anderen Dinge lernen können, die über das hinausgehen, was sie unabhängig voneinander entdecken und erfinden könnten. Ihr angesammeltes Wissen übersteigt somit jenes in der »Zone latenter Lösungen«, das sich jedes Individuum selbst erschließen kann. Die Arbeiten der Teams um Bridges und van Leeuwen befassten sich mit zwei sehr unterschiedlichen Tierarten, doch zusammen lassen sie ernsthafte Zweifel an dieser angeblichen menschlichen Ausnahmeerscheinung aufkommen.

In einer Auffangstation in Sambia stellte van Leeuwens Team zwei Gruppen von Schimpansen (Pan troglodytes) eine mehrstufige Aufgabe. Um eine Belohnung in Form von Erdnüssen zu erhalten, musste ein Affe eine Holzkugel holen, dann eine Schublade an einem Automaten aufziehen und sie offen halten, um die Kugel einzuwerfen. Sobald er die Schublade schloss, gab das Gerät eine Portion Nüsse aus (siehe »Lernen durch Zusehen«). Zuerst ließen die Fachleute 66 Primaten die Aufgabe ohne Hilfestellung erkunden. Über einen Zeitraum von drei Monaten gelang es keinem einzigen Individuum, an die Erdnüsse zu kommen. Im Anschluss brachten sie zwei Schimpansen bei, den Automaten zu bedienen. Diese agierten daraufhin als Vorführer für die anderen. Sie verbreiteten das neue Wissen in ihrem sozialen Netzwerk, und insgesamt 14 Tiere lernten durch ihre Demonstrationen, die Aufgabe zu lösen.

Schimpansen scheinen also wie der Mensch zu den Tieren zu gehören, die sich durch Beobachtung Fähigkeiten aneignen können, die für sie allein nur schwer oder gar nicht zu erlernen sind. Im Prinzip könnte das die Basis für eine kumulative Kultur bilden, da viele Individuen von den Fortschritten einiger weniger profitieren könnten. Das Ergebnis ist aber vielleicht gar nicht so überraschend, wenn man bedenkt, dass die Primaten über ein großes Gehirn und ein reiches kulturelles Leben verfügen. So sind sie etwa auch dazu fähig, Traditionen bei der Nahrungssuche und bei Werkzeugen zu entwickeln, die sich von Gemeinschaft zu Gemeinschaft unterscheiden.

Die Studie von der Arbeitsgruppe um Alice Bridges ist umso bemerkenswerter, als sie sich nicht auf nahe Verwandte des Menschen konzentrierte. Die Fachleute untersuchten Hummeln (Bombus terrestris) – Tiere mit einem Hirnvolumen, das kaum 0,0005 Prozent von dem eines Schimpansen erreicht. Für die Versuche verwendete das Team eine zweistufige Puzzlebox, in der ein Insekt zunächst einen blauen Schieber aus dem Weg drücken musste, um einen roten Schieber zu erreichen. Diesen konnte es dann bewegen, um eine Zuckerlösung frei zu legen (siehe »Lernen durch Zusehen«). In drei getesteten Völkern gelang es keiner Hummel, das Rätsel in einem Zeitraum von 12 oder 24 Tagen selbstständig zu lösen. Mühsam brachten die Forscherinnen und Forscher neun Tieren mit Hilfe von zusätzlichen Belohnungen bei, an das Zuckerwasser zu kommen. Diese wurden dann zu Vorzeigerinnen für ihre Artgenossinnen. Bemerkenswerterweise lernten 5 von 15 Hummeln, die Zeit mit ihnen in der Puzzlebox verbrachten, wie sie den Mechanismus bedienen mussten. Es handelt sich zwar um kleine Stichproben, doch der Punkt ist klar: Die Aufgabe war für die Tiere sehr schwer allein zu bewältigen, aber einige konnten sie durch soziales Lernen lösen.

Lernen durch Zusehen | Tiere können sich Fähigkeiten aneignen, die zu komplex sind, als dass ein Individuum sie in seinem Leben selbst entwickeln könnte. Fachleute gaben Schimpansen und Bienen eine schwierige Aufgabe, die sie über einen längeren Zeitraum nicht allein lösen konnten. Die Arbeit von Forschenden um Edwin van Leeuwen zeigte, dass Schimpansen die Lösung eines Rätsels, das sie allein durch Innovation innerhalb von drei Monaten nicht fanden, von einem weiteren Tier lernen konnten. Den Primaten gelang dies, indem sie einen Artgenossen beobachteten, der zuvor von den Forschenden trainiert worden war (a). Das Team um Alice Bridges belegte, dass diese Kompetenz auch bei wirbellosen Tieren vorhanden ist. Von ihm untersuchte Hummeln konnten sozial lernen, eine Puzzlebox zu öffnen, die Individuen im Lauf von bis zu 24 Tagen nicht geknackt hatten – länger, als die meisten Hummeln in ihrem Leben auf Nahrungssuche sind. Ein Tier muss zwei Schieber bewegen, um die Aufgabe zu lösen (b).

Es lässt sich nicht ausschließen, dass einzelne Individuen die Aufgaben mit mehr Zeit eigenständig gelöst hätten. Immerhin sind drei Monate für einen Schimpansen, der 40 Jahre oder älter werden kann, nicht sehr lange. Im Gegensatz dazu verbringt eine Hummel im Schnitt nur acht Tage ihres Lebens mit der Futtersuche. Die 12 bis 24 Tage in der Untersuchung von Bridges’ Arbeitsgruppe kommen also womöglich bereits dem Maximum dessen nahe, wozu die Tiere in ihrem Leben fähig sind.

Doch was wäre, wenn mehr Individuen an den Experimenten teilgenommen hätten? Diese Frage verdeutlicht ein allgemeines Problem beim Testen einer Hypothese, die auf dem Konzept der »Zone latenter Lösungen« basiert. Denn: Wie kann ein Forscher jemals sicher sein, dass eine Aufgabe zu schwierig ist, um sie allein zu lösen? Und lässt sich eine solche Zone wirklich für eine Tierart definieren, wenn die kognitiven Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse zwischen den Individuen dieser Spezies je nach ihren Genen und Entwicklungserfahrungen stark variieren?

Eine soziale Übertragung von Handlungen, die Tiere durch menschliches Training erwarben, zeigt natürlich nicht, dass Hummeln oder Schimpansen solche komplexen Fähigkeiten in freier Wildbahn voneinander lernen. Außerdem untersuchten beide Studien die Folgen einer einzigen sozialen Übertragung. Das Potenzial, Kompetenzen progressiv zu verbessern – das charakteristisch für kumulative Kultur ist –, konnten sie so nicht explizit testen. Die Arbeit mit den Primaten weist jedoch faszinierende Parallelen zu natürlichen Verhaltensweisen der Tiere auf. Etwa mit dem Nüsseknacken – einer mehrstufigen Fähigkeit, von der manche annehmen, sie sei für Schimpansen zu komplex, als dass diese sie allein erlernen könnten. Demnach müsste sie das Ergebnis einer kumulativen Kultur sein.

Eine besondere Stärke der beiden Studien liegt jedoch vielleicht gar nicht so sehr darin, was sie uns über kumulative Kultur bei Hummeln und Schimpansen verraten. Vielmehr offenbaren sie auch einiges über uns Menschen. Unsere Spezies überschätzt gewöhnlich, wozu sie im Vergleich zu anderen Tieren in der Lage ist, und sucht pauschale Erklärungen für die menschliche Kognition und Kultur. Die Forschungen legen nun nahe, dass die Fähigkeit, von anderen zu lernen, was man allein nicht herausfinden kann, auf dem Haufen vormals als »einzigartig menschlich« erachteter Errungenschaften landen sollte – wo bereits der Gebrauch von Werkzeugen, das episodische Gedächtnis und die absichtliche Kommunikation liegen. Es ist nicht erforderlich, auf spezielle Formen des sozialen Lernens zu verweisen, wie zum Beispiel das Kopieren von Körperbewegungen. Die Hummeln lernten einfach, indem sie kompetente Vorführerinnen genau beobachteten und so Erfahrungen mit der Aufgabe sammelten. Viele Fachleute, die sich mit Menschen beschäftigen, kommen bei ihren Versuchen zu ähnlichen Schlussfolgerungen. So zeigten Experimente, dass wir Körperbewegungen nicht nachahmen müssen, um zunehmend besser konstruierte Werkzeuge zu produzieren.

Wenn Schimpansen und Hummeln von Artgenossen lernen können, wozu sie allein nicht im Stande sind, dann ist diese Fähigkeit wahrscheinlich keine Erklärung für die ausgeprägte kumulative Kultur des Menschen. Stattdessen könnte sie ihr Resultat sein. Kumulative Kultur bringt Produkte hervor, die viel zu komplex sind, als dass einer von uns sie allein hätte erfinden können – wie den Laptop, den ich gerade benutze. Vielleicht ist es an der Zeit, die einfachen Erklärungsversuche aufzugeben. Vielmehr sollten wir uns darauf konzentrieren, zu entschlüsseln, wie das koevolutionäre Netz zwischen Innovation, sozialem Lernen und sozialer Struktur zu der komplexen Kultur führt, von der alle Menschen abhängen.

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