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Stammzellforschung: Von der Hoffnung zur Hilfe

Als universelle medizinische Allzweckwaffe verraten Stammzellen enormes Potenzial - dieses im medizinischen Ernstfall zu nutzen, gelang bisher nur ansatzweise. Zwei Forschergruppen kamen zuletzt aber Schritt für Schritt voran.
Kolonie von erythrozytären Vorläuferzellen
Embryonale Stammzellen vermehren sich fast unbegrenzt und könnten die verschiedensten defekten Körperzellen bei einer Therapie ersetzen. Andererseits werfen diese Stammzellen aber auch ethische Bedenken auf: Um sie zu gewinnen, muss eine Blastozyste zerstört werden, jener frühe Keim, der wenige Tage nach der Befruchtung aus einer menschlichen Eizelle entsteht. Entnimmt man ihm Stammzellen, geht er zu Grunde.

Umgehen wollen Forscher dieses Dilemma seit Neuestem, indem sie erwachsene Körperzellen in einen stammzellähnlichen Zustand, die IP-Stammzellen, zurückverwandeln. Schon viel länger greifen Forscher dagegen auch auf das in jedem menschlichen Körper ohnehin vorhandene Reservoire adulter Stammzellen zurück, die sich bei Erwachsenen im Knochenmark, aber auch in anderen Organen wie Haut und Gehirn finden. Besonders komfortabel erhält man adulte Stammzellen allerdings schon bei der Geburt: Nach der Abnabelung bleibt ein Rest des kindlichen Bluts in der Nabelschnur und kann risikolos für Mutter und Kind gewonnen werden.

Schon seit den 1990er Jahren setzt man solche Nabelschnurblutstammzellen therapeutisch ein; längst gibt es Nabelschnurblutbanken, die die entnommenen Blutzellen eines Menschen aufbewahren, um sie im Falle eines Falles in einer für ihn maßgeschneiderten Stammzelltherapie einsetzen zu können. Sie könnten etwa gegen Krebs und Erkrankungen des Immunsystems eingesetzt werden. Zwei Beispiele aus der Praxis demonstrieren nun auch Forschergruppen aus Leipzig und München: den Einsatz von Nabelschnurstammzellen gegen Schlaganfall und Diabetes.

Zellen gegen den Schlag

Frank Emmrich von der Universität in Leipzig und seine Kollegen beschäftigten sich mit dem typischen Szenario eines Schlaganfalls: ein Blutpfropfen entsteht und verstopft mit katastrophalen Auswirkungen ein Hirngefäß. Das Gehirn bekommt daher zu wenig Sauerstoff und Nervenzellen sterben ab; Lähmungen, Sprachstörungen oder Gedächtnisverlust treten auf. Oft sind solche Folgen eines Schlaganfalls irreversibel.

Entnahme von Nabelschnurblut | In Nabelschnurblutbanken werden die entnommenen Blutzellen eines Menschen aufbewahrt, um sie im Falle eines Falles in einer für ihn maßgeschneiderten Stammzelltherapie einsetzen zu können. Zunächst punktiert dabei ein Arzt oder eine Hebamme nach der Geburt die Nabelschnur und sammelt das Nabelschnurblut in Entnahmebeuteln. Später werden Kontrollen durchgeführt, die Präparate computergesteuert eingefroren und schließlich in stromunabhängigen Lagertanks dauerhaft aufbewahrt.
Jedes Jahr bringt der Infarkt im Gehirn allein in Deutschland 75 000 Menschen den Tod und lässt noch einmal doppelt so viele mit oft schweren Behinderungen zurück. Dabei ließen sich angrenzende Hirnregionen retten, wenn der fatale Blutpfropfen spätestens drei Stunden nach dem Hirninfarkt mit Hilfe von Medikamenten aufgelöst würde. Innerhalb dieser kurzen Zeit kommt jedoch nur einer von vier Schlaganfallpatienten in ärztliche Behandlung.

"Mit Stammzellen", so Emmrich nach einem erfolgreichen Versuch in Ratten, "könnten wir diesen schmalen Zeitrahmen von drei Stunden auf drei Tage erweitern." Das Leipziger Team hatte zunächst einen künstlichen Schlaganfall erzeugt, indem es den Blutfluss durch eine große Hirnarterie drosselte. "Einige Stunden später spritzten wir Stammzellen in die Venen der Tiere", erklärt der Forscher. Die Stammzellen stammten aus Nabelschnurblut oder Knochenmark.

Die behandelten Tiere erholten sich tatsächlich nahezu vollständig von den neurologischen Ausfallerscheinungen: Bereits nach vier Tagen ging es ihnen merklich besser, nach elf Tagen nahezu wieder genauso gut wie vor dem Hirninfarkt. Bei unbehandelten Artgenossen besserten sich die Symptome dagegen nur geringfügig.

Inzwischen hat das Team um Emmrich den nächsten Schritt in Richtung klinische Studien am Menschen getan: am Großtiermodell Schaf. Bei ihm ist das Gehirn zwar etwas anders organisiert als beim Menschen, der Infarkt verläuft aber ganz ähnlich. Die Tiere sind außerdem groß genug, um ihr Gehirn in einem für das Menschenmaß gebauten Magnetresonanztomografen aussagekräftig durchleuchten zu können. Zudem können die Forscher jedem Tier problemlos Stammzellen aus seinem eigenen Nabelschnurblut oder Knochenmark für die anschließende Rücktransfusion abzapfen. Diese Therapie mit eigenen Zellen – man nennt sie autologe Transplantation – ist bei den kleineren Ratten praktisch unmöglich. Doch nur mit ihrer Hilfe können die Forscher ausschließen, dass die erzielten Heilerfolge auf unbekannte Effekte durch artfremde Zellen zurückgehen.

Ein erster gründlicher Versuch mit dem neuen Tiermodell verlief äußerst erfolgreich: Sieben von insgesamt acht Schafen, die 24 Stunden nach einem operativ herbeigeführten Schlaganfall mit eigenen Stammzellen behandelt wurden, verhielten sich bereits 30 Tage später wieder weit gehend normal. Das achte Tier erholte sich wie unbehandelte Kontrolltiere zwar weniger gut von seinen Schäden, es hatte von vornherein aber ungewöhnlich wenig Stammzellen im Blut – zu wenige offenbar für eine erfolgreiche Therapie.

Ungeklärte Fernwirkung

Doch wie schaffen es die Stammzellen, die Hirnregionen vor einer Zerstörung zu bewahren? "Jedenfalls nicht dadurch, dass sie abgestorbene Nervenzellen ersetzen", erklärt Emmrich. Zwar könnten die wandlungsfähigen Zellen durchaus funktionsfähige Neurone bilden, allerdings nicht in der kurzen Zeit, in denen sich die Tiere vom Infarkt erholen. Offenbar wirken die Stammzellen aus der Ferne – mittels Signalstoffen, die die Selbstheilungskräfte des Gehirns mobilisieren. Experimente zeigten: Wenn Stammzellen verhindern, dass beschädigte Nervenzellen absterben, ist kein direkter Zellkontakt nötig. "Wir konnten den Untergang der Neurone auch dann verhindern, wenn wir die Stammzellen durch eine Membran von den erkrankten Nervenzellen fernhielten", sagt Emmrich.

"Jetzt gibt es kein stichhaltiges Argument mehr gegen eine sorgfältig geplante klinische Studie mit Schlaganfallpatienten."
(Frank Emmrich)
Möglicherweise entfalten Stammzellen ihre heilende Wirkung unter anderem dadurch, dass sie spezielle Hirnzellen – Astrozyten – beeinflussen. Nach einem Hirninfarkt grenzen die Astrozyten das gesunde gegenüber dem zerstörten Nervengewebe ab. Der Astrozytenwall schützt einerseits die gesunden Nervenzellen, erschwert ihnen jedoch andererseits, sich neu zu organisieren. Stammzellen beschränken den Astrozytensaum auf ein Minimum, sodass die Neuorganisation nicht mehr behindert wird.

Wie die Stammzellen ihre Wirkungen tatsächlich entfalten, muss noch untersucht werden. "Eines unserer Ziele ist es, die Mechanismen herauszufinden. Doch noch wichtiger ist es für uns, dass die Stammzelltherapie erfolgreich ist und keine gefährlichen Nebenwirkungen hat", betont Emmrich. Der Wissenschaftler hofft, dass er die neue Therapie in wenigen Jahren am Menschen anwenden kann: "Jetzt gibt es kein stichhaltiges Argument mehr gegen eine sorgfältig geplante klinische Studie mit Schlaganfallpatienten."

Stammzellen gegen Diabetes

Wo Emmrichs Team Nabelschnurstammzellen gegen Schlaganfallfolgen in Stellung bringt, kämpft eine Forschergruppe der Technischen Universität München mit ähnlichen Waffen an einer anderen Front: Annette-Gabriele Ziegler und ihr Team möchten mit einem in den USA mit Erfolg getesteten Ansatz die Volkskrankheit Diabetes attackieren.

Bei Betroffenen ist das komplexe System der Blutzuckerregulation beeinträchtigt. So gehen bei Typ-1-Diabetes Bauchspeicheldrüsenzellen zu Grunde, die Insulin produzieren. Das Hormon lässt im Normalfall den Blutzuckerspiegel nicht zu hoch werden, sein Gegenspieler Glucagon sorgt dafür, dass er nicht zu stark absinkt. Längst weiß man, dass immunologische Prozesse den Tod Insulin produzierender Bauchspeicheldrüsenzellen verursachen und den typischen Insulinmangel rasch zunehmen lassen können – bis schließlich überhaupt kein Insulin mehr ausgeschüttet wird. Daher kommen die Patienten bis heute nicht darum herum, sich Insulin zu spritzen.

Zellen aus Nabelschnurblut können einen Ausweg bieten, wie Studien in den USA möglicherweise belegen. Dort war nach Wegen gesucht worden, die körpereigene Immunattacke gegen die Bauchspeicheldrüse zu neutralisieren und so die Fähigkeit der Bauchspeicheldrüse wiederherzustellen, Insulin zu produzieren.

"Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir den Diabetes einmal sehr gut in den Griff bekommen werden."
(Annette-Gabriele Ziegler)
Die Forscher hatten Kinder ausfindig gemacht, bei denen kürzlich ein Diabetes Typ 1 festgestellt worden war und deren Familie ihr Blut in einer Blutbank aufbewahrte. Die meisten produzierten noch immer eine kleine Menge Insulin. Die Wissenschaftler spritzten den Kindern Nabelschnurblutzellen in die Venen. Dann untersuchten sie die Patienten weitere zwei Jahre lang: Wie viel Insulin produzierten sie selbst? Wie waren die Blutzuckerwerte? Welche Funktionen haben die entscheidenden Immunzellen?

Die Ergebnisse machen Hoffnung: Die Kinder benötigten erheblich weniger Insulin als die anderen, die keine Nabelschnurblutzellen erhalten hatten. Außerdem zeigten sich in ihrem Blut höhere Konzentrationen an bestimmten Zellen, die die körpereigene Attacke gegen die Bauchspeicheldrüsenzellen bremsten.

"In einer ähnlichen Studie wollen wir jetzt erstmals in Deutschland die Wirksamkeit von Nabelschnurblut bei Diabetes Typ 1 untersuchen", erklärt Annette-Gabriele Ziegler, Forschergruppe Diabetes der Technischen Universität München.

Wie die amerikanischen Wissenschaftler geht Ziegler davon aus, dass es bestimmten Zellen – so genannten T-Lymphozyten – aus dem Nabelschnurblut gelingt, die zerstörerische Immunreaktion gegen die Bauchspeicheldrüsenzellen zu drosseln. "Zurzeit geben wir den Kindern einfach nur Nabelschnurblut", sagt Ziegler. "Als Nächstes wollen wir die Zellen, die die Zerstörung der Bauchspeicheldrüse verhindern, aus dem Nabelschnurblut isolieren und so unsere Ergebnisse verbessern. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir den Diabetes einmal sehr gut in den Griff bekommen werden."

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