Direkt zum Inhalt

Internationales Jahr des Riffes: Abgetaucht

Eine Brandungswelle rollt den Besuchern durch die Tür entgegen. Die Erwachsenen weichen instinktiv zurück, bevor sie die Gischt als Projektion erkennen. Ein kleiner Junge nimmt seine Schwester an die Hand: Gemeinsam springen sie über das heranschießende Wasser und tauchen ab - in die gedämpfte Atmosphäre einer Ausstellung rund um die Unterwasserwelt der Korallenriffe.
Riff
Korallenriffe bedecken weltweit eine Fläche von 212 000 Quadratkilometern, also "nur" etwa ein Prozent der Erdoberfläche. Dennoch beherbergen sie ungefähr ein Viertel aller Fischarten und werden wegen ihrer Artenvielfalt nicht umsonst die "Regenwälder des Meeres" genannt. Etwa 100 000 Riffbewohner sind bislang identifiziert worden, aber Meeresbiologen schätzen, dass über eine Million Tier- und Pflanzenarten die Wohngemeinschaft Riff miteinander teilen. Allein rund um die indonesischen Raja-Ampat-Inseln wurden 2006 insgesamt 20 neue Korallenarten identifiziert.

Virtuelle Brandung | Sieht zwar so aus, ist aber nur Schein: Nasse Füße bekommt niemand beim Eintritt in die Ausstellung.
Im Internationalen Jahr des Riffs widmet das Berliner Museum für Naturkunde nun diesem besonderen Lebensraum eine umfangreiche Sonderausstellung, die unter dem Titel "Abgetaucht" über die Grundlagen dieses faszinierenden Lebensraumes und die ihm drohenden Gefahren aufklärt.

Hergeschafft

Blickfänger der Ausstellung ist ein freistehendes Riff. Es verströmt einen leicht fischigen Geruch – es ist echt. Wissenschaftler des Naturkundemuseums hatten es 1967 vor Kuba abgebaut und nach Berlin gebracht, noch bevor klar wurde, dass die Zukunft der Riffe bedroht ist. Das DDR-Fernsehen nahm das damals zum Anlass, einen Film über das Kubariff zu drehen, mit Manfred Krug als Sprecher.

Praktisch ausgestorben | Einst ein typischer Anblick in kubanischen Riffen, heute eine Seltenheit: Elchgeweihkorallen sind vom Aussterben bedroht.
Heute sind die kubanischen Riffe stark geschädigt. Die Elchgeweihkorallen beispielsweise, die das kleine Riff krönen und die für viele Menschen unausweichlich zum Bild eines karibischen Korallenriffs gehören, sind inzwischen praktisch ausgestorben.

Das Riff so aus der Nähe zu betrachten, es umrunden zu können, kein Glas zwischen sich und den Korallen zu sehen, das ist eine etwas andere Erfahrung, als man es vom Zoo gewöhnt ist.
"Dieses Riff bietet die Möglichkeit, den Lebensraum in seiner dreidimensionalen Struktur zu begreifen, statt nur Fischen hinter Glas zuzusehen"
(Reinhold Leinfelder)
"Wir können und wollen nicht mit Großaquarien konkurrieren. Aber dieses Riff bietet die Möglichkeit, den Lebensraum in seiner dreidimensionalen Struktur zu begreifen, statt nur Fischen hinter Glas zuzusehen", erklärt Reinhold Leinfelder, seit 2006 Generaldirektor des Naturkundemuseums Berlin und Kurator der als Wanderausstellung konzipierten Schau.

Eingelebt

In den Schaukästen rund um das Kubariff lenken kleine Scheinwerfer das Auge auf Gruppen von Glasbehältern. Allerlei exotische Riffbewohner wie Fangschreckenkrebs, Dornenkronenseestern, gefleckte Muräne oder Sanddollar schweben hier schwerelos konserviert in Alkohol.

Eingelegte Ex-Bewohner | Vielleicht etwas merkwürdig mutet die Ausstellung von konservierten Riffbewohnern an, doch verdeutlicht dies die wissenschaftliche Ausrichtung des Museums.
Das ist sicher nicht die sympathischste Art, die bunte Welt der Rifftiere zu präsentieren. Aber es verdeutlicht die wissenschaftliche Ausrichtung des Museums: "Eigentlich ist das Naturkundemuseum ein Forschungsbetrieb mit angeschlossener Ausstellungsfläche", so der als Geologe ausgebildete Riffwissenschaftler Leinfelder. 30 Millionen Objekte enthält die Forschungssammlung, von denen immer nur wenige dem Publikum präsentiert werden. Zu dieser Sonderausstellung, die zum Begleitprogramm des Internationalen Jahr des Riffes gehört und mit 129 000 Euro vom Bundesamt für Naturschutz unterstützt wird, konnten immerhin 500 Ausstellungsstücke aus dem eigenen Fundus gezogen werden.

Auf farbenfrohes Gewimmel müssen die Besucher jedoch nicht völlig verzichten. Besteigt man das angedeutete Boot am anderen Ende des Raumes, gibt ein Monitor scheinbar den Blick durch den Glasboden frei. Durch eine Taucherbrille kann man die Welt der Blumentiere sogar in 3-D erleben.

Tiefgetaucht

Der Fokus der Sonderausstellung liegt klar auf den für ihre Farbenpracht bekannten tropischen Flachwasserriffen. Das Sonnenlicht nutzend, das durch die Wasseroberfläche bricht, haben sich die Lebewesen dort an eine sehr nährstoffarme Welt angepasst. Auf die zunehmende Einleitung nährstoffreicher Abwässer sind sie nicht vorbereitet. Makroalgen überwuchern und ersticken dann die Riffe, Seeigel, die gewöhnlich den Algenbewuchs als lebende Rasenmäher unter Kontrolle halten, kommen seit einer Epidemie in den 1980er Jahren nicht mehr gegen das Unkraut an, zumal vielerorts auch die algenabweidenden Fischarten hoffnungslos überfischt worden sind. Artenreichtum geht verloren und bedroht damit auch die Proteinversorgung von 800 Millionen Menschen in Süd- und Ostasien, Ostafrika und in der Karibik.

Liebe zum Detail | Mit viel Liebe zum Detail haben die Wissenschaftler des Berliner Museums für Naturkunde einen Einblick in die Welt der Riffe und ihre Gefährdung geschaffen.
Die Schau gewährt aber auch einen kurzen Einblick in die Welt der Kaltwasserriffe. Erst vor 20 Jahren erkannten Wissenschaftler, dass die Riffwelt nicht auf die Reichweite der lebensspendenden Sonnenstrahlen beschränkt ist – nur funktioniert sie im Dunkeln ganz anders. Ob an den Azoren oder in Nordnorwegen: In Tiefen bis zu 1200 Meter Tiefe filtern Korallenwälder Plankton aus dem Wasser. Sie dienen als Kinderstube für viele Arten, von denen die Fischindustrie lebt. Um die dort lebende bizarre Tierwelt zu erforschen, bedarf es allerdings eines Tauchroboters. Ein solcher hängt denn auch an der hinteren Wand des Ausstellungssaales und wirkt ein wenig wie ein überdimensionierter, hilflos im Trockenen zappelnder Fangschreckenkrebs.

Gemeinsam beherbergen die verschiedenen Riffsorten etwa 3800 bekannte Korallenarten, darunter 1300 strukturbildende Steinkorallen. Jährlich lagern die kleinen Polypen über 600 Millionen Kalk ab und bauen damit die größten biologischen Strukturen der Erde. Das Great Barrier Reef mit seinen 2000 Kilometern Länge ist aus dem Weltraum leicht zu sehen. Dabei bilden die Riffe einen natürlichen Brandungsschutz, der Strände und Lagunen schützt und erneuert.

Ausgebleicht

Heute ist ein Fünftel aller Korallenriffe tot. Der Weltklimarat befürchtet, dass sich bis 2030 knapp zwei Drittel der Riffe in Wüsten verwandeln werden, und in 50 bis 100 Jahren könnten sie gar ausgestorben sein. Neben dem Fischen mit Sprengstoff und Zyanid, der Schleppnetzfischerei, die Korallenbänke in Geröllhalden verwandelt, und der Wasserverschmutzung steht der Klimawandel ganz oben auf der Liste der Bedrohungen, denen sich die marine Lebensgemeinschaft ausgesetzt sieht.

Riffbauer | Steinkorallen sind die wichtigsten Aktiven im Riffbau. Die winzigen Tiere scheiden Kalk ab und erzeugen so im Laufe der Jahrtausende die gewaltigen Riffstrukturen.
Flachwasserkorallen leben symbiotisch mit Zooxanthellen zusammen. Diese Algen nisten sich in der Haut der Blumentiere ein und versorgen den Wirt mit Nährstoffen wie Zucker, den sie aus der Fotosynthese gewinnen. Im Gegenzug ernähren sie sich von den Abfallstoffen der Korallen, die ihnen Schutz gewähren. Steigt die Wassertemperatur jedoch an, geraten die Nesseltiere unter Stress, der sie veranlasst, ihre Symbionten freizusetzen: Die Koralle bleicht aus. Zwar kann die Koralle auch wieder neue Zooxanthellen einlagern, wenn sich die Bedingungen verbessern. Hält der Umweltstress jedoch an, stirbt die Koralle langsam ab.

Zurückgeblickt

Im Laufe der Erdgeschichte sind Riffe schon mehrmals fast ausgestorben und haben sich doch wieder erholt. Oft hat die Rekonvaleszenz jedoch viele Millionen Jahren in Anspruch genommen. Auch waren die Riffbildner nicht immer Korallen, sondern unter anderem Bakterien, Algen, Muscheln oder Schwämme.

Alte Zeugen | Trilobiten oder Pfeilschwanzkrebse zeugen noch heute von einstigen Meeresgebieten. Sie starben Ende des Perm vor 251 Millionen Jahren aus.
Blütezeiten erlebten Riffe im Jura und Devon – Epochen, auf die sich die Ausstellung in ihrem Rückblick beschränkt. Die Riffe von damals sind heute beispielsweise im Harz, der Schwäbischen und Fränkischen Alb und der Eifel zu finden: Vor 150 Millionen Jahren waren weite Teile Europas Riffland.

Seit etwa 60 Jahren interessieren sich neben Geologen und Fossiliensuchern vor allem Ölfirmen für die versteinerten Riffe. Denn ein Großteil der weltweiten Erdölvorkommen ist in den alten Riffformationen gespeichert. Darüber hinaus dient der Kalk aber auch der Bauindustrie, welche die fossilen Riff- und Lagunenkalke beispielsweise zu Mörtel verarbeitet.

Fitgemacht

Der materielle Wert der noch lebenden Riffe ist jedoch auch nicht zu vernachlässigen: Einem Magazin des Bundesumweltministeriums zum Internationalen Jahr des Riffs zufolge schätzte man die jährliche Wertschöpfung der Riffe bereits Anfang der 1990er Jahre auf 300 Milliarden Euro. Allein der "touristische Wert" der Karibik-Riffe wird heute mit 90 Milliarden Euro pro Jahr veranschlagt.

Skelettierter Fisch | Riffbewohner wie der Papageifisch nagen Korallen, ab um an die eingelagerten Algen zu gelangen. Damit schaden sie dem Riff aber nicht, sondern machen neue Besiedlungsflächen frei. Die Kalkbrösel bleiben unverdaut und bilden – wenn der Fisch den Ballast schließlich wieder abwirft – die Grundlage für die makellos weißen Strände der Karibik.
Das abgebildete Exemplar war eine Woche lang auf der "Grünen Woche" ausgestellt. Weil es danach nicht mehr verzehrt werden konnte, erwarb das Museum den Fisch und skelettierte ihn.
Darüber hinaus bietet das Ökosystem Riff aber auch eine wahre Fundgrube für Pharmazeuten. Wo zahllose Spezies auf engstem Raum zusammenleben, entwickeln sie trickreiche Angriffs- und Abwehrmechanismen. Kaum so groß wie ein Kinderfinger und von unspektakulär braun-weißer Maserung liegen einige Kegelschneckengehäuse in einem der Schaukästen. "Die Raspelzunge, mit der die Gartenschnecken unserem Salat zusetzen, hat Conus magnus zu einer Art Pfeil umgebaut", erzählt Leinfelder. Mit diesem Pfeil gehen die Räuber auf Jagd: Ein Fisch, vom Schneckenpfeil durchbohrt, kommt nicht mehr weit. Denn Conus magnus ist eines der giftigsten Tiere der Welt.

Sonst sind es aber besonders die unbeweglichen Arten wie Schwämme, die sich der chemischen Keule bedienen. Die Medizin hat sich dies in den letzten Jahren zunehmend zu Nutze gemacht und gewinnt aus den Tieren inzwischen eine ganze Reihe hochwirksamer Medikamente: Diese wirken antiviral, gegen Pilzbefall oder auch entzündungshemmend. Das Gift von Conus magnus nutzen Ärzte beispielsweise als starkes Schmerzmittel vor allem in der Krebsbehandlung.

Hingebaut

Heilmittel, Artenreichtum, Nahrungsquelle – es gibt viele gute Gründe, für den Erhalt der Riffe zu kämpfen. Oder sie wieder aufzuforsten? Schnell taucht der Begriff des "künstlichen Riffes" auf. "Mit dem Begriff künstliche Riffe wird viel Schindluder getrieben", beklagt Leinfelder. Er steht für endlose Reifenhalden, versenkte Bohrplattformen, unter Strom gesetzte Maschendrahtgeflechte oder löchrige Beton-Tetraeder. Der Riffwissenschaftler weist auf einen Werbefilm für diese so genannten Reefballs:
"Da versteckt sich nun ein Fisch und die nennen das einen Erfolg!"
(Reinhold Leinfelder)
Ein Fisch schwimmt durch eine der Beton-Pyramiden. "Da versteckt sich nun ein Fisch und die nennen das einen Erfolg!" Die nächste Einstellung zeigt spärlichen Bewuchs entlang der Reefball-Kanten: "Alles Algen und Weichkorallen. Absolut nichts Strukturbildendes."

Eingerollt | Dermaßen auf kleinem Raum gedrängt, lässt sich erahnen, dass Kraken selbst noch in kleinste Winkel schlüpfen können.
Vor Florida mussten nach einem missglückten Riffbauprojekt über zwei Millionen alte Autoreifen wieder geborgen werden. Auch Schiffwracks sind nach Jahren noch kaum als Siedlungsgrund angenommen. In den Anfangstagen der künstlichen Riffe wurde der auf diese Weise billig entsorgte Metallschrott nicht einmal von Öl und andern giftigen Rückständen befreit und war so eher schädlich als nützlich.

Befürworter der künstlichen Riffe heben immer wieder hervor, dass die Fischdichte rund um die menschlichen Bauten am Meeresgrund zunehme. "Fische fühlen sich von auffälligen Strukturen angezogen. Aber sie werden effektiv nur aus den umliegenden Bereichen abgezogen. Im Prinzip handelt es sich hier um große Fischfallen", meint Leinfelder jedoch dazu.

Künstliche Riffe funktionierten nur da, wo das Ökosystem in Ordnung ist. Sie können also dort helfen, wo ein gesundes Riff durch unbedachten Ankerwurf beschädigt wurde oder ein Schleppnetz einen Teil des Riffs eingeebnet hat. In solchen Fällen würde sich ein Riff aber im Laufe der Zeit auch selbst wieder regenerieren.

Gefräßiger Südseebewohner | Lincks Walzenseestern lebt in tropischen Riffen, wo er von Algen über Muscheln, Schnecken und Krebstiere bis hin zu Fischen alles vertilgt, was ihm vor den Mund gerät.
Es könnte sicher auch nicht schaden, wenn Hotels kleine eigene Riffe bauten, um damit Druck von den natürlichen Riffen nehmen. Aber als globale Lösung sind Riffbälle und dergleichen nicht brauchbar. "Tropfen auf den heißen Stein ist noch übertrieben ausgedrückt", so die Bilanz Leinfelders.

Resümiert

Um den faszinierenden Lebensraum Riff zu schützen, bleibt also nur eines: Stressfaktoren reduzieren. Dazu müssten schonendere Fischfangmethoden gefördert, Wasserverschmutzung gestoppt und der Klimawandel so weit als möglich eingedämmt werden. Hoffnungen knüpfen sich in dem Zusammenhang an die Biodiversitätskonferenz, die mit 190 Teilnehmerstaaten im Mai in Bonn stattfindet.

Im ganz Kleinen helfen dabei aber sicher auch Ausstellungen wie diese, die die bedrohte Welt ins öffentliche Bewusstsein rücken, ohne zu polemisieren oder zu belehren. Und für Besucher, deren Interesse nachhaltig geweckt ist, bietet das Begleitbuch zur Sonderausstellung mit einer Sammlung vertiefender Artikel die Möglichkeit, auch daheim weiter abzutauchen.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.