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Physikalische Weltanschauung: Goodbye Weltformel

Die Idee einer Theorie von Allem, mit der sich jedes physikalisches Phänomen erklären lässt, zieht so manchen Wissenschaftler in ihren Bann. Doch längst nicht alle glauben an diese elegante Variante - zum Beispiel der amerikanische Physiker Robert Laughlin.
Robert Laughlin
Ein Mensch besteht aus Molekülen, Moleküle aus Atomen, Atome aus wieder kleineren Teilchen und so fort. Es scheint als würde eine Ebene auf einer anderen aufbauen, ein Sachverhalt auf einem noch grundlegenderen zurückgehen. Müsste man dann am Ende nicht einmal zu der Basis aller Physik vorstoßen? Robert Laughlin ist kein Anhänger dieses reduktionistischen Prinzips. Vielmehr, meint er, sollten Forscher ihre Aufmerksamkeit auf das kollektive Verhalten der einzelnen Teile lenken, das oft über deren Summe hinausgeht. Mit diesem emergenten Ansatz gelang es ihm ein bislang unverstandenes physikalisches Phänomen zu beschreiben. Im Jahr 1998 erhielt er dafür den Nobelpreis für Physik.

spektrumdirekt: Herr Laughlin, was spricht Ihrer Meinung nach gegen eine Weltformel?

Robert Laughlin: Ich halte eine Theorie von Allem für eine sehr verrückte Idee. So verrückt, dass ich mich manchmal frage, wie es dazu kommen konnte – wie kann es passieren, dass Leute dafür bezahlt werden, über Dinge zu sprechen, die nie gemessen werden können und vermutlich nicht wahr sind? Meines Erachtens ist eine mathematische Beschreibung von "Allem" einfach lächerlich. Das zeigt sich schon an einem einfachen Beispiel: Schneeflocken sind eigentlich etwas sehr simples, doch wenn wir ihre wundervollen und komplexen Formen berechnen wollen, merken wir schnell, dass es nicht funktioniert. Sie reagieren einfach zu sensibel auf Details. Wenn man die Temperatur nur ein wenig ändert, ändern sich ihre Formen erheblich.

spektrumdirekt: Das hört sich fast an wie eine Kapitulation. Sollte man gar nicht versuchen, den Sachen auf den Grund zu gehen?

Laughlin: Viele Physiker hassen Ungenauigkeit. Und sie hassen multiple Wahrheiten. Und ja, sie wollen an das Herz der Sache und oft ist der Weg dahin, die Sachen auseinander zunehmen. Doch wir wissen von vielen Dingen in der Physik, die sehr exakt sind. Wenn man sie dann auseinander nimmt, um zu sehen wie sie funktionieren, findet man gar nichts. Das klassische Beispiel ist Wärme. Wärme ist eine statistische Größe und nur viele Teilchen gemeinsam können thermische Energie besitzen – eines allein aber nicht. Es gibt eine Menge Beispiele, bei denen sich das ähnlich verhält: Supraleitung, Magnetismus oder sogar ganz gewöhnliche Starrheit – die Tatsache, dass Dinge hart sind. Niemand weiß wie man diese Eigenschaften beweisen kann und warum sie so so perfekt und exakt sind. Also eigentlich ist die Welt der Physik gefüllt mit empirischen Hinweisen darauf, dass emergente Phänomene in der Natur auftreten.

spektrumdirekt: Könnte es nicht einfach eine Frage der Zeit sein, bis Physiker diese Sachverhalte mit reduktionistischen Methoden erklären können?

Laughlin: In einigen Fällen lässt sich zeigen, dass es nicht einfach eine Frage der Zeit ist. Aber vielleicht ist eine bessere Antwort auf Ihre Frage, dass die Frage selbst ideologisch ist. Es ist gerade Wissenschaft, zu fragen, was wahr ist und nicht, was man glaubt wahr zu sein. Tatsächlich ist die Fähigkeit, Dinge zu berechnen, ein Glaube. Und in einigen Fällen wissen wir sicher, dass dieser Glaube falsch ist. Denn eine Menge der Dinge basieren auf einem Organisationsprinzip – wie eben bei der Starrheit eines Körpers. Das beste Beispiel ist aber wohl das Leben. In einem Lebewesen lässt sich nichts exakt berechnen. Vielleicht ein Paar Proteine – man sollte aber nicht überrascht sein, wenn das dann langweilige sind. Bei den Spannenden, wie etwa der RNA-Polymerase, klappt das kaum.
Wo ist nun die Brücke zwischen dem Wissen, das wir über Metalle oder Mineralien also im Grunde Physik haben, zu lebenden Sachen? Die Antwort ist: Es gibt keine Brücke. Wir wissen derzeit nicht, wie wir logisch von der einen zu der anderen Seite gehen sollen. Das zeigt, dass es noch etliche Gesetze zu entdecken gibt.

spektrumdirekt: Emergente Phänomene lassen sich beobachten und beschreiben, aber man kann sie nicht erklären. Ist das nicht ein bisschen unbefriedigend?

Laughlin: Nun, Leute haben ein unterschiedliches Verständnis von dem Wort "erklären". Für einige bedeutet es, mit kleinsten Bausteinen anzufangen und sie mit Mathematik zusammenzufügen. Für andere meinen mit "erklären", dass man mit einigen gegebenen Gesetzen beginnt und deren Folgen betrachtet. Fragt man Leute aus meinem Forschungsgebiet, ob sie Dinge "erklären", werden das natürlich bejahen. Teilchenphysiker würden hingegen mit einem klaren nein antworten – denn wir mogeln in ihren Augen, da wir nicht auf der untersten Ebene anfangen.

spektrumdirekt: Bedeuten die emergenten Phänomene nicht auch ein Stück weit den Verlust der Kontrolle über die Physik?

Laughlin: Eine Interpretation ist, dass wir keine Kontrolle mehr über die Dinge haben, eine andere, dass sich die Natur nicht einfach aus den einfachsten Teilchen zusammensetzen lässt. Nehmen wir etwa die Festigkeit dieses Stifts. Die gute Nachricht ist, dass man sein Verhalten vorhersagen kann, die schlechte, dass jegliche Information darüber, dass er aus Atomen besteht verschwunden ist – denn das Verhalten hängt nicht von seinen Bestandteilen ab. Emergente Gesetze erlauben also Dinge vorherzusagen, doch sie verbergen auch alle Informationen über die tieferliegenden Ebenen.

spektrumdirekt: In ihrem Buch "Abschied von der Weltformel" behaupten Sie, dass das Zeitalter des Reduktionismus vorüber sei. Woran machen Sie das fest?

Laughlin: Nun, ich habe das Buch nicht für Wissenschaftler geschrieben, sondern für Laien. Und die Idee war, zu zeigen, dass es immer noch etwas zu entdecken gibt. Diese Aussage ist meine Antwort auf den amerikanischen Wissenschaftsjournalist John Horgan, der sagte, die Wissenschaft sei tot. Der abstrakte, der wundervolle Teil der Wissenschaft sei vorbei und es gibt nichts weiter zu tun, außer Details aufzufinden. Sobald man die Dinge auseinander nimmt und alle Teile versteht, gibt es seiner Ansicht nach nichts mehr zu tun. Die Leute, die noch Wissenschaft studieren wollen, verschwenden demnach also ihre Zeit, denn wir kennen ja die Wahrheit bereits. Ich finde, dass er eine falsche Auffassung von Wissenschaft hat. Für mich ist das erst der Anfang. Denn die wirkliche Herausforderung liegt darin, zu verstehen, wie diese Teile miteinander kommunizieren und wie sie im Kollektiv Gesetze hervorbringen.

spektrumdirekt: Was bedeutet das für die Physik?

Laughlin: Viele Physiker finden das Konzept der Emergenz nicht interessant, weil es für sie nicht fundamental ist. Die Unterscheidung von emergenten Gesetzen, die aus kollektivem Verhalten resultieren, auf der einen und fundamentalen Gesetzen, die einfach da sind, auf der anderen Seite ist meiner Meinung nach aber ideologisch. So wie etwa die Geschlechter in den europäischen Sprachen.
Die wohl wichtigste Frage bleibt meiner Ansicht nach, woher die Gesetze kommen. Wenn man versteht, dass einige aus der Selbstorganisation entstehen, dann ist das etwas, auf das man seine Aufmerksamkeit richten sollte. Ich denke, dass sich in den nächsten Jahrzehnten insbesondere junge Leute sehr dafür interessieren werden. Ob wir nun wirklich am Ende des Reduktionismus stehen – ich weiß es auch nicht.

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