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Magische Wissenschaft: Harry Potters Magie für Muggel

Was Harry Potter kann, können wir schon lange - sagen sich Forscher und Tüftler aus der Muggelwelt. Ein kleiner Blick in die Trickkiste heutiger Forschungslabors offenbart wandelbares Papier, elektronische Überwachungschips, unsichtbarmachende Tarnkappen oder tunnelnde Materie - ganz ohne Zauberei.
Harry Potter
"Faszinierend!", sagte er immer dann, wenn Harry ihm erzählte, wie man ein Telefon benutzte, "wirklich genial, wie viele Schliche die Muggel gefunden haben, um ohne Zauberei durchzukommen."
(Harry Potter und die Kammer des Schreckens)

Harry Potter | In Harry Potters Zauberwelt ist so manches möglich. Und in der Wirklichkeit?
Wenn der gutmütige Zauberer Mr Weasley aus den Harry-Potter-Romanen wüsste, woran die Muggel (gewöhnliche Nicht-Magier) heutzutage in ihren Labors forschen und basteln, würde er noch weit mehr staunen. Denn viele der großen und kleinen Wunder, die Harrys Abenteuer so fesselnd und – nun ja: zauberhaft – machen, liegen auch für Muggel im Bereich des Möglichen.

Eine Zeitung mit bewegten Bildern? – Ist in Arbeit. Die Karte des Herumtreibers, auf der jeder Schüler und Lehrer von Hogwarts als bewegter Punkt zu verfolgen ist? – Lässt sich machen. Harrys Tarnumhang, der alles unsichtbar macht, was darunter steckt? – Könnte demnächst fertig sein. Ein kleiner Bummel durch die Winkelgasse der muggelschen Forschungslabors lässt uns erahnen, was sich mit "Eckelzitrität" und Steckern alles anfangen lässt. Vamos!

Der Tagesprophet – eine Zeitung, die bewegt

Der Ausschnitt stammte offensichtlich aus der Zaubererzeitung, dem Tagespropheten, denn die Menschen auf den Schwarzweißfotos bewegten sich. Harry hob das Blatt hoch, glättete es und las. […] Harry warf einen Blick auf das sich bewegende Foto und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Alle neun Weasleys standen vor einer großen Pyramide und winkten ihm begeistert zu.
(Harry Potter und der Gefangene von Askaban)

Gestern noch war die fotografierte Welt schwarzweiß – morgen wird sie bewegt sein. Mit herkömmlicher Tinte auf normalem Papier ist das natürlich nicht zu machen. Moderne Flachbildschirme, wie wir sie von Computern und Fernsehern kennen, kommen dem Ziel schon näher. Allerdings nicht nahe genug, denn sie sind viel zu dick, völlig unflexibel und benötigen zum Anzeigen ihrer Bilder ständig Strom.

Papier ist dagegen hauchdünn, lässt sich rollen und falten und präsentiert seinen Aufdruck ohne Energiezufuhr selbst im strahlendsten Sonnenschein mit hervorragendem Kontrast. Der richtige Stoff für die Muggelausgabe des Tagespropheten muss folglich die Vorzüge beider Technologien in sich vereinen. Als "elektronisches Papier" schickt er sich derzeit an, langsam eine Nische auf dem Buchmarkt zu erobern.

Einer seiner Erfinder, der Physiker Joseph Jacobson, träumt sogar schon vom "letzten Buch" – einem schön gebundenen Band mit elektronischem Papier, das in seinem Speicher ganze Bibliotheken birgt. Von sämtlichen Harry-Potter-Ausgaben bis hin zu Fachwerken über Quantenchromodynamik wäre alles zwischen den zwei Buchdeckeln untergebracht und böte dem Leser den gleichen Genuss wie ein echtes Buch.

E-Ink-Papier | Auch wenn Harry Potters Tagesprophet ein wenig anders aussieht – das E-Ink-Papier stellt immerhin schon wandelbares Display dar, das schon ein wenig an Papier erinnert.
Grundlage wäre ein flexibles, dünnes Display wie beispielsweise das E-Ink der gleichnamigen Firma. Es ist fast so dünn wie Papier und mit unzähligen Hohlräumen durchsetzt, den Mikrokapseln. In diesen schweben in einer Flüssigkeit die Farbpartikel: winzige elektrisch geladenen Kügelchen in schwarz (negative Ladung) oder weiß (positive Ladung).

Um das E-Ink-Papier zu bedrucken, braucht man nur zwischen der Ober- und Unterseite des Blattes eine elektrische Spannung anzulegen, und die Kügelchen wandern gemäß ihrer Ladung im Feld – eine elektrophoretische Trennung, wie es im Fachjargon der Physikochemie heißt. Das Ergebnis sind strahlend weiße, graue und tief dunkle Bereiche mit einer Auflösung, die ungefähr dem Raster einer konventionellen Tageszeitung entspricht. Und das Bild bleibt auch ohne Spannung stabil! Nur wenn der gezeigte Inhalt gewechselt werden soll, ist Energie nötig. Ansonsten reflektiert das E-Ink-Papier einfach unterschiedlich stark das einfallende Licht.

In Amerika und Asien gibt es bereits Lesegeräte auf Basis der E-Ink zu kaufen, und sogar Prototypen mit farbiger Darstellung sind auf Messen zu bewundern.
"Der Ausschnitt stammte offensichtlich aus der Zaubererzeitung, dem Tagespropheten, denn die Menschen auf den Schwarzweißfotos bewegten sich"
(Harry Potter und der Gefangene von Askaban)
Für Zauberbücher und Urlaubslektüre sicherlich ein interessanter Ansatz – die bewegten Bilder aus dem Tagespropheten lassen sich so aber nicht an den Muggel bringen. Denn mit Reaktionszeiten im Bereich von Zehntelsekunden ist E-Ink einfach zu langsam, um Videos ruckelfrei abzuspielen.

Bei Philips Research haben Robert Hayes und Johan Feenstra deshalb ein anderes Verfahren entwickelt, das ausreichend flink ist. Anstelle von Kügelchen geben sie ein Gemisch aus Wasser und farbigen Öltröpfchen in die Hohlkammern des elektronischen Papiers. Normalerweise breitet sich das Öl weit aus und färbt so den gesamten Kapselbereich. Liegt an der Elektrode, die sich am Boden jeder Kammer befindet, aber eine Spannung an, zieht sich das Tröpfchen auf Grund der geänderten Oberflächenspannung zusammen und gibt den Blick frei auf den weißen Untergrund. Eine Änderung, die so schnell abläuft, dass die Weasleys oder andere Zauberer nach Herzenslust winken und Grimassen schneiden können – die Muggelzeitung von morgen kann ihre Bewegungen ebenso gut wie der Tagesprophet wiedergeben. Vorausgesetzt, sie ist an eine kleine Batterie angeschlossen, denn ohne Strom fehlt den aktiven Ölgemälden des elektronischen Papiers der rechte Schwung.

Unter ständiger Beobachtung

Es war eine Karte, die jede Einzelheit von Hogwarts und des Schlossgeländes zeigte. Doch wirklich erstaunlich waren die kleinen Tintenpunkte, die sich darauf bewegten, jeder mit einem Namen in winziger Schrift versehen. Verblüfft beugte sich Harry über die Karte. Ein beschrifteter Punkt oben links zeigte, dass Professor Dumbledore in seinem Büro auf und ab ging; Mrs Norris, die Katze des Hausmeisters, trieb sich im zweiten Stock herum, und Peeves, der Poltergeist, hüpfte gerade im Pokalzimmer auf und ab.
(Harry Potter und der Gefangene von Askaban)

Ob die Verantwortlichen an der Rikkyo-Grundschule und der Brittan-Grundschule wohl an Harry Potters Karte des Herumtreibers gedacht haben, als sie den Entschluss fassten, die Anwesenheit (oder Abwesenheit) der Kinder sowie deren Flucht in geheime Ecken elektronisch zu verfolgen? Oder konnten sie einfach nicht den Verlockungen widerstehen, die eine bequeme automatische Fernüberwachung bietet? Fest steht, dass in Japan wie in den USA Schüler zeitweise mit kleinen Funkchips kontrolliert wurden, die sie als Anstecker tragen mussten oder die an ihren Taschen oder Büchern befestigt waren. Über Lesegeräte an den Eingangstüren und strategisch wichtigen Punkten konnten die Schulleitungen so jederzeit feststellen, wer verspätet zum Unterricht erschien oder heimlich in den Korridoren seine Mitschüler verhexte.

RFID-Chip | Das gibt's schon: Japanische Schulkinder tragen solche RFID-Chips, die sie beim Eintritt ins Schulgebäude identifizieren.
Neu ist diesem Vorgang eigentlich nur, dass anstelle von Waren diesmal Kinder markiert wurden. Denn die kleinen RFID-Chips kleben inzwischen in beinahe jedem Supermarkt auf Joghurtbechern wie Getränkekartons. Die Abkürzung steht für Radio Frequency Identification und erlaubt es, über Entfernungen von mehreren Metern berührungslos Informationen auszulesen, die auf dem jeweiligen Chip gespeichert sind. Dafür braucht der Chip nur in das elektromagnetische Wechselfeld eines Lesegeräts zu kommen. Dies erzeugt in seiner Antenne einen kleinen Induktionsstrom, der einen Kondensator auflädt und den Mikrochip mit Energie speist. Nach den Vorgaben seiner Programmierung verändert er nun das Feld des Lesegeräts und übermittelt so seine Daten.

Als VeriChip ist bereits eine Variante auf dem Markt, die speziell für die Implantation in Menschen oder Tiere geeignet ist. Knapp über einen Zentimeter lang und zwei Millimeter dick ist der Apparat, der bei lokaler Betäubung unter die Haut verpflanzt wird und von außen nicht sichtbar ist. Hundehalter setzen ihn gerne ein, damit jeder Tierarzt ihre entlaufenen oder gestohlenen Lieblinge leicht identifizieren kann.

Krankenhäuser könnten ihre Patienten mit den Chips unverwechselbar machen – was allerdings auf wenig Akzeptanz stößt. Dagegen erfreuen sich implantierte Chips als bargeldloses Zahlungsmittel in einigen Trend-Kneipen durchaus wachsender Beliebtheit. Und wenn die Besucher eines zukünftigen Hogwarts-Vergnügungsparks am Eingang ein Armband mit RFID-Chip bekämen, könnten verteilte Lesegeräte ihre Aufenthaltsorte fast wie in der Vorlage auf Bildschirmen oder elektronischen Karten anzeigen.

Navigationssatellit | Navigation aus dem All: Das europäische Satelliten-Navigationssystem Galileo soll wie die US-amerikanischen Konkurrenz GPS eine exakte Ortsbestimmung ermöglichen.
Sogar beinahe weltweit, wenn wir den Schritt vom begrenzten RFID zum satellitengestützten GPS wagen. Denn beim Global Positioning System sammelt ein Empfänger die Signale spezieller Satelliten, die ständig ihre Position und die genaue Uhrzeit aussenden. Da die Funkwellen für den Weg eine winzig kleine, aber messbare Zeit benötigen, lässt sich aus den jeweiligen Zeitverschiebungen auf den Abstand und damit auf den eigenen Standpunkt schließen.

Diese Information könnte der Empfänger dann seinerseits über ein Handy-Netz weitergeben – und Harry wüsste in Kombination mit einer entsprechenden Karten-Software stets exakt, wo wir uns befinden. Und wenn nicht Harry, dann eben die Eltern von Kindern in den USA und Großbritannien, wo man ein Hightech-Armband kaufen kann, das auf die beschriebene Weise seine Position ermittelt und weitergibt. Auch die Angehörigen von Alzheimer-Kranken könnten damit ihre gefährdeten Familienmitglieder auf dem Computer-Bildschirm verfolgen.

"Vernon", sagte Tante Petunia mit zitternder Stimme, "schau dir die Adresse an – wie können sie denn nur wissen, wo er schläft? Sie beobachten doch nicht etwa unser Haus?"
(Harry Potter und der Stein der Weisen)

Mit RFID und GPS haben selbst Muggle das längst nicht mehr nötig, um herauszufinden, wo jemand steckt.

Unsichtbar und durchsichtig

Harry hob das silbern leuchtende Stück Stoff vom Boden hoch. Es fühlte sich seltsam an, wie Wasser, das in Seide eingewebt war. "Es ist ein Umhang, der unsichtbar macht", sagte Ron mit ehrfürchtigem Gesicht. "Ganz bestimmt – probier ihn mal an." Harry warf sich den Umhang über die Schultern und Ron stieß einen Schrei aus. "Es stimmt! Schau!" Harry sah hinunter auf seine Füße, doch die waren verschwunden. Er stürzte hinüber zum Spiegel. Gewiss, sein Spiegelbild sah ihn an, freilich nur sein Kopf, der Körper war völlig unsichtbar. Er zog den Umhang über den Kopf und sein Spiegelbild verschwand vollends.
(Harry Potter und der Stein der Weisen)

Drei Dinge braucht der Zauberlehrling: Zauberstab, Rennbesen und Tarnumhang. Besonders der Tarnumhang hilft Harry quer durch alle sieben Bände immer wieder aus brenzligen Situationen. Wenn er – allein oder in Begleitung – den magischen Stoff über sich wirft, ist er für seine Umgebung absolut unsichtbar. Mal abgesehen von Madeye Moody und Dumbledore, die beide offenbar unter den Umhang sehen können, aber das hat die Autorin im finalen siebten Band anscheinend vergessen, und so wollen auch wir diese Ausnahmen großzügig beiseite lassen. Für die Physik der Muggel ist es schon so schwierig genug, einen akzeptablen Tarnumhang zu akzeptieren. So schwierig, dass er mit natürlichen Materialien schlichtweg nicht herzustellen wäre.

Tarnkappe | Tarnkappe bei der Arbeit: Das Hindernis F stört die Ausbreitung des Lichtes in Form einer Kugelwelle (links). Mit einer Tarnkappe hingegen ist die Ausbreitung schon einen Bruchteil einer Wellenlänge hinter dem verhüllten Bereich kaum noch vom völlig ungestörten Profil zu unterscheiden (rechts).
Um jemanden unsichtbar zu machen, reicht es nämlich nicht aus, dass er kein Licht aussendet oder reflektiert. Damit erhielten wir nur eine dunkle Gestalt inmitten einer farbigen Umgebung. Der Trick besteht vielmehr darin, das Licht um ihn herum fließen zu lassen – ganz ähnlich wie Wasser, das in einem Fluss seinen Weg um einen Brückenpfeiler sucht und dahinter bald weiterströmt, als sei nichts gewesen.

Um Licht von seinem geraden Weg abzulenken, sind jedoch Materialien mit verschiedenen Brechungsindizes nötig. Je dichter ein Stoff optisch ist, umso langsamer kommt Licht in ihm voran und umso mehr wird es beim Übergang von einem dünneren Medium zum Einfallslot hin gebrochen – leider genau die falsche Richtung für einen Tarnumhang.

Damit die Lichtstrahlen den direkten Umweg nehmen, müssen sie vom Lot weg umgelenkt werden. Das geht jedoch nur mit einem Brechungsindex von weniger als 1 – und den gibt es nicht. Zumindest nicht in der Natur. Keine Substanz und keine künstliche chemische Verbindung kann Licht auf solch abnormale Bahnen zwingen.
"'Es ist ein Umhang, der unsichtbar macht', sagte Ron mit ehrfürchtigem Gesicht"
(Harry Potter und der Stein der Weisen)
Und dennoch haben Physiker dieses Kunststück auf UTZ-Niveau ("Unheimlich Toller Zauberer") vollkommen ohne Magie gemeistert. Nicht durch chemische Raffinesse, sondern durch ausgeklügelte Geometrie. Das Geheimnis der neuen Metamaterialien liegt nämlich in ihrer besonderen Form.

An ihren Oberflächen schaffen winzige Haare, Plättchen oder Borsten ein ganz besonderes Umfeld für einfallende elektromagnetische Wellen. Tritt die Strahlung in so ein Metamaterial hinein, kommt es zu komplexen Wechselwirkungen mit den Elektronen in diesen Strukturen. Statt wie auf einer sanften Rampe in den Stoff hineinzugleiten, geht es zu wie in einem Wildwasserkanal – und das Licht gerät in Richtungen, die es in herkömmlichen Substanzen niemals einschlagen würde.

Dass Metamaterialien auf diese Weise tatsächlich Körper unsichtbar machen können, haben Wissenschaftler um David Smith von der Duke-Universität experimentell nachgewiesen, indem sie einen Tarnzylinder bauten, der alles in seinem Inneren verschwinden lässt. Allerdings nur für Wesen mit Mikrowellen-Augen und auch nur in zwei Dimensionen. Ein kurzer Blick von oben ließ den verborgenen Zauberlehrling sofort auffliegen. Und überhaupt: Mit Mikrowellen schauen höchstens Radaranlagen, aber kein fieser Lehrer oder gar Todesser.

Einen großen Schritt weiter waren da Wladimir Schalajew von der Purdue-Universität und seine Kollegen. Ihr Tarnzylinder funktionierte immerhin schon im roten Licht. Aber eben nur bei genau einer Farbe. Denn da liegt ein grundsätzliches Problem der Muggel-Tarnvorrichtungen: Die Oberfläche der Metamaterialien kann stets nur auf eine Wellenlänge abgestimmt sein – für alle anderen ist sie wirkungslos. Im Prinzip sollte es machbar sein, auch Strukturen zu entwickeln, die bei mehreren oder gar allen optischen Wellenlängen funktionieren. Gebaut hat so einen verbesserten Tarnumhang jedoch noch niemand.

Aber selbst, wenn es gelingen sollte, alles Licht um den Tarnumhang herum zu lenken und damit wirklich unsichtbar zu werden, hätte ein Muggel-Harry darunter ein weiteres Problem: Er könnte nämlich nichts sehen! So ein Umhang wäre für den Träger mindestens so undurchsichtig wie eine Papiertüte. Heimlich damit durchs Schloss zu geistern, wäre niemandem zu empfehlen. Der Lärm, wenn man Rüstungen umwirft, Vasen zerschlägt und Bilder von den Wänden reißt, würde die optische Tarnung schlicht akustisch wirkungslos machen.

Augen zu und durch zum Gleis neundreiviertel

Menschen auf dem Weg zu den Gleisen neun und zehn rempelten ihn an. Harry beschleunigte seine Schritte. Er würde direkt in diesen Fahrkartenschalter knallen, und dann hätte er ein echtes Problem. Er lehnte sich, auf den Wagen gestützt, nach vorn und stürzte nun schwer atmend los – die Absperrung kam immer näher – anhalten konnte er nun nicht mehr – der Gepäckkarren war außer Kontrolle – noch einen halben Meter – er schlodd die Augen, bereit zum Aufprall – Nichts geschah ... Harry rannte weiter ... er öffnete die Augen. Eine scharlachrote Dampflok stand an einem Bahnsteig bereit, die Waggons voller Menschen. Auf einem Schild über der Lok stand: Hogwarts-Express, 11 Uhr.
(Harry Potter und der Stein der Weisen)

Mit dem Kopf durch die Wand – das würde auch so mancher Muggel-Forscher gerne gehen. Doch leider ist so etwas nicht möglich. Oder eigentlich nicht möglich. Denn ganz genau betrachtet ist es auch nicht unmöglich. Wenigstens nicht absolut unmöglich. Nur unwahrscheinlich. Sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich. Aber der winzig kleine Rest reicht aus, um es doch ab und zu passieren zu lassen.

Anders als in der Zaubererwelt sind in der Wissenschaft Namen wie Das-was-eigentlich-nicht-passieren-kann-aber-manchmal-doch-vorkommt nicht üblich, und so nennen Physiker das Phänomen, das es erlaubt, durch Wände zu gehen, einfach Tunneleffekt. Er gehört zu dem seltsamen Repertoire der Quantenphysik, in dem sowieso alles irgendwie anders ist, als wir Makro-Muggel es kennen.

Schuld daran ist die verwirrende Eigenheit von Materie, nicht nur als Teilchen vorzuliegen, sondern ebenso als Welle. Je nachdem, welches Experiment wir durchführen, verhält sich Materie mal so und mal so. Als Teilchen befindet sich beispielsweise ein Elektron eindeutig auf einer Seite einer Barriere. Als Welle dehnt es sich hingegen unendlich aus. Das meiste mag links von der Wand sein, aber ein Teil befindet sich auch rechts davon, und genau gerechnet erstreckt sich ein Winzigstel sogar bis an den Rand des Universums.

Tunneleffekt | Zwei Möglichkeiten, einen Berg zu überwinden: In der klassischen Physik muss man den Berg besteigen, um auf die andere Seite zu gelangen. In der Quantenphysik geht das jedoch auch anders: Objekte können den Berg einfach waagerecht durchqueren – sie tunneln.
So eine Materiewelle ist also im Prinzip überall. Aber nicht überall gleich stark. Und wenn wir sie zwingen, wie ein Teilchen auszusehen, muss sie sich entscheiden, an welcher Stelle dieses Teilchen nun auftauchen soll. Mit der größten Wahrscheinlichkeit geschieht dies am Ort der größten Wellenstärke. Aber auch jeder andere Punkt ist denkbar, je größer die lokale Wellenstärke, umso höher die Chancen. Und so kann das Elektron wirklich vom einen Moment auf den anderen auf der anderen Seite der Barriere auftauchen. Es "tunnelt" einfach hindurch.

Das passiert natürlich sehr, sehr selten. Einem einzelnen Teilchen jedenfalls. Haben wir es allerdings mit Zigliarden Teilchen zu tun, wird das Tunneln im Ganzen betrachtet zur Normalität. Und zwar zur lebenswichtigen Normalität. Denn ohne den Tunneleffekt würde unsere Sonne auf der Stelle erlöschen. Der Druck und die Temperatur in ihrem Inneren reichen schlicht nicht aus, um die Abstoßungskräfte der Atomkerne zu überwinden und die miteinander zu verschmelzen. Nur weil ständig Kerne durch diese Barriere hindurchtunneln, läuft die Energie spendende Fusion überhaupt ab.

Wir brauchen aber nicht bis zur Sonne zu reisen, um den Tunneleffekt zu erleben. Auch der radioaktive Alpha-Zerfall wäre ohne ihn undenkbar, weil die Fluchtschranke für den ausgestoßenen Helium-Kern eigentlich unüberwindlich ist.
"Wirklich genial, wie viele Schliche die Muggel gefunden haben, um ohne Zauberei durchzukommen"
(Harry Potter und die Kammer des Schreckens)
Außerdem tunneln Elektronen fleißig in technischen Apparaten wie Tunneldioden und Rastertunnelmikroskopen. Selbst in unseren Körperzellen wird gelegentlich getunnelt. Protonen in der DNA verlassen mitunter tunnelnd ihren angestammten Platz und destabilisieren dadurch das Molekül. Beim Versuch, den Schaden zu reparieren, unterlaufen den Hilfsmolekülen Fehler, und es entstehen Spontan-Mutationen.

Was hält uns also zurück, wenn wir wie Harry durch eine Mauer laufen wollen? – Es ist die schiere Unwahrscheinlichkeit. Um erfolgreich auf Gleis neundreiviertel zu gelangen, müssten alle Atome in unserem Körper gleichzeitig in exakt die gleiche Richtung und genau über die gleiche Entfernung tunneln. Das ist zwar nicht absolut ausgeschlossen, aber so extrem unwahrscheinlich, dass wir vermutlich eher von einem Blitz aus einer Konservendose erschlagen werden. Oder anders ausgedrückt: Es klappt nicht. Nicht bei Muggeln. In Sachen Tunneln müssen die Zauberer irgendeinen Trick kennen, der unseren Wissenschaftlern bislang verborgen geblieben ist. Aber eines Tages werden wir auch hinter diesen Zauber kommen. Und dann geht es auf zum Gleis neundreiviertel!

Zaubern ohne Magie

PDAs und Smartphones statt Erinnermich, E-Mail und Paketdienst statt Eulenpost, Taschenlampe statt Lumos!-Zauber ... Wir Muggel stehen den Zauberern in vielen Belangen kaum nach. Und wir holen ständig auf.

"Keine Ahnung, wie die Muggel zurechtkommen ohne Zauberei", brummelt Hagrid in Harry Potter und der Stein der Weisen. – "Sehr gut!", möchten wir ihm darum antworten. Beinahe so gut wie mit magischen Kräften.

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