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Angemerkt!: Individualität statt Wahrscheinlichkeit

Tanja Krämer
Täglich stehen Ärzte vor der Situation, dass über eine Behandlung entschieden werden muss, ihre Patienten dazu aber nicht mehr in der Lage sind. Haben die Betroffenen selbst keine Hinweise auf einen bestimmten Willen hinterlassen, fragt der Mediziner die Familienangehörigen, was im Sinne des Patienten sei. Aktuellen Studien zufolge treffen die Angehörigen bei einer Simulation solcher Konfliktsituationen aber in einem Drittel der Fälle nicht die Entscheidung, die der Patient getroffen hätte.

Forscher des National Institute of Health haben darum ein Computerprogramm entwickelt, das auf Grund statistischer Daten vorhersagt, für welche Behandlung sich ein vergleichbarer Patient entscheiden würde. Mit ausreichend vielen Studienergebnissen zu fiktiven Entscheidungssituationen gefüttert, sind die Wissenschaftler überzeugt, wären seine Vorhersagen genauer – und darum möglicherweise den Bevollmächtigten des Patienten vorzuziehen. Doch mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen allein kann man dem Dilemma um den vermeintlichen Willen von entscheidungsunfähigen Kranken nicht entrinnen.

Der Vorstoß der US-amerikanischen Wissenschaftler um David Wendler ist provokativ. Denn bislang sind alle Gesetze, alle Richtlinien zum Umgang mit Entscheidungsunfähigen auf so genannte Stellvertreter ausgerichtet, also auf Menschen, die nach bestem Gewissen im Sinne des Patienten entscheiden. Da Familienmitglieder und Lebenspartner am ehesten wissen könnten, wie ein Patient leben und womöglich auch sterben möchte, ist den Angehörigen hierbei ein besonders hoher Stellenwert zugeschrieben.

Wer soll entscheiden?

Die wirklich problematischen Entscheidungen bei Komapatienten oder Unfallopfern beginnen da, wo die Behandlung die Leiden nicht mehr verringern, sondern höchstens noch unterdrücken kann, und sich die Frage stellt: Welches Leben ist für den Erkrankten noch lebenswert? Im Grunde dürfte eine solche schwer wiegende Entscheidung nur von dem Patienten selbst getroffen werden. Wenn er dies jedoch nicht mehr kann, erscheint der Rückgriff auf diejenigen, die den Menschen kennen und lieben, als bestmögliche Option. Auch die vermeintliche Genauigkeit des neuen Computerprogramms kann hieran wenig ändern.

Zum einen müsste sich hier erst einmal beweisen, dass die Software auch bei komplizierteren Fällen solide Wahrscheinlichkeiten errechnen kann. Die bislang eingespeisten Daten sind jedoch noch dürftig: Der Rechner ermittelt aus insgesamt 29 unterschiedlichen fiktiven Fallbeispielen, zu denen Studienteilnehmer Stellung genommen haben. Über zwanzig dieser Szenarios beschreiben hierbei Erkrankungen, deren Folgen von Ärzten als "inakzeptabel" bezeichnet wurden. Ein dauerhaftes Koma etwa, aus dem es kein Erwachen mehr gibt.

Es erscheint intuitiv verständlich, dass sich die Studienteilnehmer in solchen Fällen meist gegen lebenserhaltende Maßnahmen aussprachen und die Wahrscheinlichkeiten daher relativ eindeutig ausfielen. Ob das Computerprogramm aber bei den schwierigeren Fällen der "akzeptablen" Krankheitsfolgen noch immer so eindeutige Wahrscheinlichkeiten berechnen kann, scheint fraglich. Mentale Einschränkungen oder eine halbseitige Lähmung etwa werden vermutlich von jedem Menschen anders bewertet.

Der Patient als Individuum

Doch der entscheidende Grund gegen eine alleinige Nutzung des Wahrscheinlichkeitssimulators ist nicht die Korrektheit seiner Berechnungen. Es ist die Individualität des jeweiligen Patienten, und sein Recht, auch im Falle einer Unmündigkeit in dieser Einzigartigkeit respektiert zu werden. Denn so genau die Wahrscheinlichkeiten auch sein mögen, die der "Bevölkerungsbasierte Behandlungs-Indikator" errechnet – sie beziehen sich immer auf Statistiken und sind damit das genaue Gegenteil einer medizinischen Versorgung, die auf die Wertigkeit des jeweils Einzelnen gerichtet ist.

Selbst wenn von einhundert Angehörigen einer definierten Bevölkerungsgruppe neunzig die Vergabe von Antibiotika verneinen würden, wenn sie mit schwerer Alzheimer-Erkrankung und einer Lungenentzündung in ein Krankenhaus eingewiesen werden, heißt das noch lange nicht, dass ein bestimmter Betroffener, der gerade wirklich um sein Leben kämpft, dieselbe Entscheidung getroffen hätte. Dies können tatsächlich nur jene erahnen, die den Menschen kannten, als er noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. Sie kennen die Lebensgeschichte des Mannes, seine Vorlieben und Ängste, seine ganz eigene Art zu leben.

Zudem darf man nicht unterschätzen, welchen Trost einem Menschen das Gefühl geben kann, im Falle eines Falles das eigene Leben in den Händen der Menschen zu wissen, denen er vertraut. Egal, ob dies nun die Familienangehörigen sind oder ein langjähriger Freund, dem man mit einer Vorsorgevollmacht zu den wichtigen Entscheidungen ermächtigt hat. Das Vertrauen in den geliebten Menschen ist ein letzter Schutzwall vor der Hilflosigkeit. Kein Computerprogramm kann so etwas leisten.

Der Wahrscheinlichkeitenrechner mag in solchen Notsituationen eine Hilfe sein – etwa dann, wenn die Angehörigen unsicher sind oder aber der Patient niemanden mehr hat, der für ihn sprechen kann. Den Trost menschlicher Anteilnahme aber kann die binäre Logik der Maschine nicht ersetzen.

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