Direkt zum Inhalt

KI. Das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz


Dieses Buch kommt gewichtig daher. Auf mehr als 500 großformatigen Hochglanzseiten versucht sein Autor, den Leser von den Segnungen des Computerzeitalters zu überzeugen. Die deutsche Übersetzung des 1990 bei MIT Press erschienenen, mittlerweile mit mehreren Preisen ausgezeichneten "Age of Intelligent Machines" hält sich eng an die Layout-Vorlage des Originals; so bleibt es ein bilderreiches, schönes Buch.

Raymond Kurzweil bietet dem Leser einen Streifzug durch fast alle Arbeitsansätze und Fragen, die im Dunstkreis der Forschungsrichtung künstliche Intelligenz (KI) zu finden sind: Können Maschinen denken? Was ist eigentlich Intelligenz? Themen wie "Sehen" und "Die wirkliche Welt" sind ebenso als Kapitelüberschriften zu finden wie "Die schönen Künste" und "Auswirkungen auf Kriegführung". Dabei hat Kurzweil nicht alles selber geschrieben; über das Buch verstreut finden sich kurze Essays weiterer Autoren, von der Schülerin Margaret Litvin über die Philosophin Margaret A. Boden bis hin zu KI-Forschern wie Edward A. Feigenbaum, Seymour Papert und Marvin Minsky.

Herausgekommen ist ein ziemlich unkritisches Loblied auf die Errungenschaften der Computerwissenschaft, das in dieser Hinsicht bereits vor einigen Jahrzehnten so hätte geschrieben werden können. Möglicherweise liegt dies daran, daß der Autor selbst einer der Protagonisten der künstlichen Intelligenz ist. Seine Aktivitäten als Forscher, Erfinder und Unternehmer in diesem Forschungszweig reichen bis in die Mitte der siebziger Jahre zurück; er ist Konstrukteur und Produzent automatischer Lese- und Spracherkennungsgeräte.

Der Satz "Die intelligenten Maschinen sind da: Sie lesen, sprechen, hören, sehen, verstehen – und sie können lernen!" (Klappentext) faßt die Aussage des Buches treffend zusammen. Das hört sich allerdings, in Anbetracht der Zukunftsprognosen, welche manche Vertreter der künstlichen Intelligenz schon seit Jahrzehnten zum besten geben, ziemlich altbekannt an.

Zwar hat es letzthin unbestreitbar erhebliche Fortschritte gegeben, gerade auf den angesprochenen Gebieten Mustererkennung, Sprachverarbeitung und Expertensysteme. So kann sich mittlerweile jeder Texterkennungssoftware kaufen, die auf einem Personal Computer läuft – vor wenigen Jahren noch undenkbar. Doch bleiben alle diese Errungenschaften auf eigentümliche Weise auf Teilaspekte beschränkt. Beispielsweise versagen fast alle Verfahren zur Texterkennung kläglich, wenn sie nur mit einem neuen, unbekannten Schrifttyp arbeiten sollen.

Auch die meisten Expertensysteme tummeln sich in eng begrenzten Bereichen. Ein klassisches Programmpaket dieser Art kann aus den Aussagen "Alle Präsidenten der USA wohnen in Washington" und "Lincoln war ein Präsident der USA" zwar durchaus den Schluß ziehen, daß Lincoln in Washington wohnte; aber es wird wahrscheinlich an der Frage "Wo war Lincolns linker Fuß?" scheitern. Der menschliche Programmierer müßte dem System vorher explizit klarmachen, daß Füße in der Regel dort sind, wo der Rest des Menschen sich aufhält.

Nun gibt es in der Tat Versuche, triviales Alltagswissen allumfassend in Datenbanken einzuprogrammieren oder, alternativ, viele "Agenten" und "Experten" – Softwaresysteme, die sich jeweils auf Teilgebieten gut auskennen – in geschickter Weise so zusammenzuschalten, daß sie auch ungewöhnliche Situationen bewältigen. Ob solche Verfahren aber je Erfolg haben werden, kann man getrost bezweifeln. Es müßten ja Regeln für jede denkbare Situation (und für einige nicht denkbare) in einer Datenbank abgespeichert oder ein spezielles Expertensystem dafür bereitgehalten werden. Nicht vorhersehbare Aufgaben wird man mit solchen Ansätzen wohl kaum lösen können.

Das Parallelschalten vieler Agenten oder Experten braucht auch nicht automatisch die Emergenz neuer, besserer Eigenschaften des Gesamtsystems zu bewirken. So sieht man mittlerweile im Bereich der massiv parallel arbeitenden Maschinen – zu denen auch neuronale Netzwerke gehören – die Zukunft etwas kritischer als während der Goldgräberstimmung Ende der achtziger Jahre. Was Menschen und andere Lebewesen täglich mit Leichtigkeit absolvieren, das autonome Überleben in einer sich fortwährend ändernden, nicht vorhersehbaren und oft auch lebensfeindlichen Umwelt – von solchen Leistungen waren und sind die Anstrengungen der KI weit entfernt.

Insofern sind viele Extrapolationen in die "Zukunft intelligenter Maschinen", mit denen Kurzweil in seinem Buch aufwartet, mit Vorsicht aufzunehmen. Die Computertechnik ist schnellebig, und Prognosen können sehr bald überholt sein. So ist etwa in dem nur vier Jahre alten Buch nichts über virtuelle Realität zu finden, eine Technik zur Erzeugung künstlicher Welten im Rechner. Die Wirkung dieser klassischen (weitestgehend ohne KI-Techniken auskommenden) Computeranwendung auf unser Leben – mittlerweile gibt es selbst in Kleinstädten Cyberspace-Cafés – war bei der Niederschrift offensichtlich noch nicht absehbar.

Auch sonst hinterläßt das Buch eher gemischte Gefühle. So ist die Schilderung elementarer Bildverarbeitungsverfahren zwar korrekt, aber doch recht umständlich ausgefallen. Einige Behauptungen sind so verkürzt, wie sie im Text stehen, sogar falsch. Im Kapitel über Mustererkennung findet sich etwa die Bemerkung, die Sehrinde des Gehirns bestehe aus Hunderten von Schichten. Tatsächlich unterscheidet man in der dünnen Großhirnrinde im wesentlichen nur sechs verschiedene horizontale Schichten; und Neuronen, die unterschiedliche Aspekte visueller Information verarbeiten, finden sich innerhalb dieser Schichten – soweit bekannt – in streifen-, haufen- oder kolumnenförmigen Anordnungen.

Dagegen ist die Geschichte der Datenverarbeitung ausführlich und überzeugend dargestellt, bis hin zu einem Bild des ersten dokumentierten bug: Eine Motte hatte sich in ein Relais des (1944 bei IBM fertiggestellten) Rechners Mark-I verirrt – woraus sich angeblich die gängige Bezeichnung bug für Programmierfehler herleitet.

"Das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz" ist aber mit Sicherheit ein visuell ansprechendes Buch und damit möglicherweise in der Tat "in Wort und Bild eine zeitgemäße Verführung, sich mit der wohl wichtigsten Gegenwartstechnologie auseinanderzusetzen", wie es der Klappentext verspricht. Leider ist daraus kaum eine Einführung in das Thema geworden, sondern eher eine Bestandsaufnahme der KI-Forschung am Ende der achtziger Jahre. Man hätte sich allerdings einige kritischere Gedanken zu dieser vieldiskutierten Technologie gewünscht.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1994, Seite 128
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.