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Virologie: Freundliche Feinde des Feindes

Das Leben in eisigen Antarktiseen sollte eigentlich anders aussehen als anderswo. Stimmt nicht ganz: Zumindest die winzigsten dort hausenden Organismen finden sich womöglich überall und wurden andernorts bisher vielleicht nur übersehen.
Antarktis
Das Leben in einem ewig eisigen antarktischen Salzsee ist nichts für Jedermann, nur wenige Arten haben sich hier erfolgreich eingepasst. Der Lebensraum verlangt, in einem schmalen Zeitfenster von gerade mal zwei Monaten sehr relativer Wärme pro Jahr zu wachsen und zu gedeihen, um dann den Rest der Zeit eingefroren vor sich hinzudämmern. Manche Algen schaffen das – und erobern sich dadurch unerschrocken einen Lebensraum, in dem sie sich dann kaum mit Konkurrenz auseinandersetzen müssen. Dabei entsteht ein für Ökologen erfreulich übersichtliches Ökosystem – mit, alles hat einen Haken, für Ökologen sehr unerfreulichen Witterungsbedingungen.

Ein Team von Richard Cavicchioli von der University of New South Wales in Australien hat das nicht abgeschreckt. Sie besuchen einen dieser Lebensräume, den "Organic Lake" auf über 68 Grad südlicher Breite, seit mehreren Jahren. Man erreicht den gerade mal sieben Meter flachen Salzsee im Landesinneren der Antarktis, wenn man ziemlich aus der Mitte des Indischen Ozeans so lange gen Süden fährt, bis man auf den schmalen eisfreien Küstenstreifen des Südkontinents stößt. Im Seewasser, das an der Oberfläche zwischen minus 14 Grad Celsius kalt und bis 15 Grad Celsius warm sein kann, sammelten Cavicchioli mehrere Hochsommer lang DNA-Proben, um sich durch Genanalysen ein genaues Bild von der lokalen Artenarmut zu machen.

Die Auswertung zeigt: Nur wenige Grünalgen blühen demnach in rund sechs Sommerwochen, ernährt von der spärlichen Sonneneinstrahlung und den Nährstoffen, die vor allem Pinguine per Stoffwechselendproduktentsorgung eintragen. Die Rolle des einzigen Räubers in der Nahrungskette des Sees übernehmen Viren, wie man bereits ahnte: Cavicchiolis Team entdeckte folglich Mengen der doppelsträngigen DNA großer Phycodnaviren, deren explosionsartiges Auftreten das Ende der Algenblüte einläutet. Die Viren vermehren sich auf Kosten der Grünalgenzellen, lösen sie auf und setzen so größere Mengen an gelöstem organischen Material frei, in dem sich dann Bakterien massiv vermehren.

Der Organic Lake in der Antarktis | Der Organic Lake (hier eine Satellitenaufnahme) liegt im Vestfold-Hügelland der Antarktis auf 68 Grad südlicher Breite. Im Sommer ist der Küstenstreifen eisfrei und das Oberflächenwasser des sehr salzigen Sees bis zu 15 Grad Celsius warm – Algen können hier blühen. Im See und seinen Nachbargewässern tummeln sich neben den Viren, die sich auf Algenzellen spezialisiert haben, auch viele Virophagen, die die Viren befallen.
Überraschungen lauern allerdings überall, auch in vermeintlich übersichtlichen Ökosystem: Denn neben der Algen- und Viren-DNA entdeckten die Genanalysatoren nun auch regelmäßig Spuren eines zweiten, sehr viel kleineren Virus. Ein Abgleich des etwa 16000 Kilobasenpaare langen DNA-Segements mit Gendatenbanksequenzen verriet den Forschern, dass ihnen zwar etwas Bekanntes, aber bisher sehr Seltenes ins Netz gegangen sein muss: Offenbar gehören die Gene zu einem Virus-Virus – einem "Virophagen".

Denn der erste Virophage namens "Sputnik" war erst im Jahr 2008 entdeckt worden – in den Rohren eines Kühlwassersystems in Paris. Bernard La Scola und Didier Raoult von der Université de la Méditerranée in Marseille hatten das winzige Virus identifiziert und erkannt, dass es sich nur in Gegenwart eines zweiten, viel größeren "Mamavirus" vermehrt, welches seinerseits die Amöben im Kühlwasser befällt [1]. Offensichtlich veranlassen die von Sputnik befallenen Viren die von ihnen infizierten Amöben, wieder neue Sputniks zusammenzubauen: Der virale Parasit wird selbst parasitiert. In Anlehnung an die Bezeichnung für Viren, die Bakterien befallen – Bakteriophagen –, nannten die französischen Forscher Viren-Viren wie Sputnik "Virophagen". Wie häufig solche Virophagen sind, hatten die französischen Erstbeschreiber noch nicht abschätzen können.

Sputnik und Mamavirus | Auf der elektronenmikroskopischen Aufnahme sind die Virophagen namens Sputnik als winzige kugelförmige Partikel in unmittelbarer Nähe von Mimiviren (sechseckige Gebilde) zu erkennen. Die dunklen Bereiche zeigen "Virenfabriken", in denen die infizierte Amöbenzelle neue Sputnik-Viren zusammenbaut.
Nun zeigen die Analysen der Forscher um Cavicchioli, dass Virophagen nicht nur im Kühlwasser, sondern eben auch der Antarktis leben: Verschiedene Gensegmente von Sputnik und dem Organic-Lake-Virus OLV ähneln sich so deutlich, dass kein Zweifel über eine Verwandtschaft besteht [2]. Weitere Nachforschungen in Gendatenbanken brachten dann ans Licht, dass Virophagen-Virussequenzen auch schon in einigen anderen Lebensräumen gesammelt worden sind: etwa in einem Flusssystem an der Ostküste der USA, einer salzigen Lagune auf den Galapagos-Inseln oder einem Süßwassersee in Mittelamerika. Virophagen scheinen demnach häufig.

Das bestätigt auch eine Studie von Curtis Suttle und Matthias Fischer von der University of British Columbia in Vancouver, Kanada, die ebenfalls einen Virophagen fanden – in der Laborkultur, in der sie seit einigen Jahren den häufigen Zooplanktonorganismus Cafeteria roenbergensis züchten [3]. Dieser wird von dem großen Cafeteria-roenbergensis-Virus befallen, welcher seinerseits, wie die Forscher nun erkannten, von dem Virophagen Mavirus attackiert wird.

Übereinstimmend berichten die Teams von Suttle und Cavicchioli, dass die Virophagen ihre Virenwirtpopulation so stark schädigen, dass die Wirte der Viren – also das Plankton – davon profitieren. Ohne Virophagen, so ergaben mathematische Modelle, fiele die Algenblüte im Organic Lake viel dürftiger aus.

Das Fazit der Virophagenforscher: Ihr Untersuchungsobjekt hat eine bislang unterschätzte ökologische Bedeutung und ist weiter verbreitet, als gedacht. Womöglich, so spekulieren Suttle und Fischer, sogar viel weiter: Die Sequenzen der bislang identifizierten Virophagen ähneln sich nicht nur untereinander stark, sie weisen auch Gemeinsamkeiten mit typischen Gensegmenten auf, die im Erbgut von Pflanzen, Tieren und Menschen umherspringen – den so genannten DNA-Transposons vom Maverick/Polinton-Typ. Diese mobilen genetischen Elemente in unser aller Erbgut könnten einst einmal aus Virophagen entstanden sein, die den Zellen unserer frühen Vorfahren einen gewissen Schutz gegen Viren verliehen haben.

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