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Göttliches Werk

Gläubige Leser werden wohl enttäuscht sein: "Ist Gott ein Mathematiker?" ist kein religiöses Werk, und es geht nicht darum, ob Gott die Grundrechenarten beherrscht – solche Fragen gehören ins Mittelalter. Mario Livio, Astrophysiker am Space Telescope Science Institute in Baltimore hat eher ein philosophisches Buch geschrieben. Es behandelt die fundamentale Frage, ob die Mathematik Menschenwerk ist oder ob sie unabhängig und außerhalb von unserem Geist existiert. Werden mathematische Erkenntnisse also "erfunden" oder "entdeckt"? Hier prallen letztlich unterschiedliche Philosophien aufeinander, und auch nach über 2000 Jahren ist die Sache alles andere als entschieden. Natürlich kann auch dieses Buch diese zentrale Frage nicht wirklich klären. Trotzdem wird man nicht enttäuscht, denn alles was man von einem derart anspruchsvollen Thema erwartet, wird diskutiert und Livio präsentiert am Ende sogar eine Art Lösung. Schon immer wollte ich ein kompetentes Buch über das Wesen der Mathematik lesen: Dieses hier hat mich rundum begeistert.

Vielleicht ist es ein Vorteil, dass ein Astrophysiker am Werk war – der bereits mit seinem Buch "Das beschleunigte Universum" überzeugen konnte – und kein reiner Mathematiker. Livio gelingt es, auf Formeln fast vollständig zu verzichten. Das klingt zunächst beruhigend, doch vom Leser wird logisches Denken und eine gewisse Vertrautheit mit Mathematik und Naturwissenschaft verlangt. Der fundiert und verständlich geschriebene Text, unterstützt von wenigen Schwarzweißbildern und Grafiken hilft aber über einige Klippen hinweg. Vieles wird wiederholt und im neuen Kontext schließlich verständlich. Wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt. Ich möchte das Buch insbesondere Lehrern empfehlen, die ihre Schüler für Mathematik begeistern wollen.

Livio orientiert sich an der Wissenschaftsgeschichte und beginnt wie erwartet bei den alten Griechen. Grundlegend sind die Erkenntnisse von Pythagoras, Platon und Archimedes. Ein roter Faden ist das Spannungsfeld zwischen reiner Mathematik mit ihren abstrakten Begriffen und den physikalischen Objekten. Insbesondere Platon begründete die Vorstellung, Mathematik existiere unabhängig von der Welt, die wir sinnlich wahrnehmen. Kant sollte dies später aufgreifen. Immer wieder tauchen in den folgenden Kapiteln Protagonisten auf, die diese Meinung teilen oder ihr entschieden widersprechen. Dabei werden viele Richtungen aufgezeigt: Es gibt Pragmatiker, Formalisten, Idealisten oder Intuitionisten. Alles was in der Mathematik Rang und Namen hat, hat sich irgendwann zu dem Thema geäußert. Das ausführliche Namensregister und die umfangreiche Bibliografie sind ein Beleg dafür. Und neuerdings mischen auch mehr und mehr Theoretische Physiker mit: Roger Penrose ist ein herausragendes Beispiel.

Es würde hier zu weit führen, die jeweiligen Standpunkte zu erläutern – lesen Sie einfach das Buch. Nach 300 Seiten dürfte Ihnen klar sein, dass die Suche nach dem Wesen der Mathematik bedeutende Fragen aufwirft. Hier diskutiert der Autor insbesondere "Eugene Wigners Mysterium": Wie begründet sich die universelle Erklärungsmacht der Mathematik? Oft kam ein neu entdecktes (erfundenes?) Gebiet zunächst völlig zweckfrei daher und wurde doch später von der Physik dringend benötigt. Ein klassisches Beispiel ist die Riemannsche Geometrie ohne die Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie undenkbar wäre. Interessant ist auch, ob außerirdische Intelligenzen (abgesehen von den Symbolen) dieselbe Mathematik verwenden und sich zum Beispiel der Fundamentalsatz der Algebra ebenfalls in ihren "Lehrbüchern" findet. Befassen sie sich vielleicht auch mit abstrakten Begriffen, wie etwa Kategorien und Funktoren, die (noch) frei von jeder "weltlichen" Anwendung sind? Ist Mathematik nur Logik oder Sprache?

Im finalen Kapitel schreibt Mario Livio über seine eigene Sicht der Dinge (und greift die Gedanken des großen Mathematiker Michael Atiyah auf). "Ist Mathematik eine Schöpfung oder eine Entdeckung?" hält er schlicht für die falsche Frage, denn sie suggeriere unzulässigerweise ein "entweder oder" wo eher ein "sowohl als auch" gelten solle. Demnach sind einige Teile der Mathematik Menschenwerk und andere "göttlich" (um es klar zu sagen, Gott spielt im ganzen Buch keine Rolle, der Titel ist wohl eher als Werbeeffekt gedacht). Ich möchte dazu aber nicht mehr sagen – in einer Krimirezension verrät man schließlich auch nicht den Täter.

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