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Der kleine Bruder

Der Mars ist kein Planet wie jeder andere. Wie bei der Erde, wird seine Oberfläche von Satelliten so lückenlos überwacht, dass er nicht nur vollständig kartographiert ist, sondern auch zeitliche Prozesse beobachtet werden können. Seine Landschaften sind uns dank beweglicher Roboter so vertraut, wie Bilder aus fernen Wüstengegenden der Erde. Der rote Planet ist beinahe so etwas wie ein weiterer Kontinent, den es zu entdecken gilt. So erklärt sich der eigentümliche Buchtitel "Der neunte Kontinent", in dem der Wissenschaftsredakteur Ulf von Rauchhaupt von der wissenschaftlichen Eroberung des Mars berichtet.

Die Geschichte der Marsforschung ist tatsächlich von einer deutlich geozentrischen Heuristik geprägt. Eine Sichtweise, die spätestens mit der Interpretation von kaum sichtbaren Strukturen auf dem Mars als künstlichen Kanälen begann und sich bis zu zukünftigen Plänen einer Marsumgestaltung, "terraforming" genannt, fortsetzt. Der Mars wird so als verhinderte Erde verstanden. Der rote und der blaue Planet sind wie zwei Geschwister, von denen leider nur eines das Reifezeugnis erhalten hat.

Das Sorgenkind Mars hat nicht einmal Wasser vorzuweisen – oder etwa doch? Die Frage, ob es mal flüssiges Waser auf dem Mars gab oder temporär immer wieder gibt und in welcher nichtflüssigen Form es heutzutage vorliegt, ist der Dreh- und Angelpunkt der Marsforschung. Hat man sich schon früh von möglichen Marsbewohnern verabschiedet, sollte es doch wenigstens Wasser geben und so wenigstens mikrobiologisches Leben. Dass der Mars nicht als eigenständiger Planet gesehen wird, hat konkrete Auswirkungen auf die Marsforschung. Der Autor macht dies am Beispiel der von dem amerikanischen Marsrover Opportunity entdeckten "Blueberries" klar. Dabei handelt es sich um runde Hämatitklümpchen, die im Sandstein stecken, wie Blaubeeren in einem Muffin.

Über die Herkunft dieser Blueberries herrscht Uneinigkeit, was der Autor wie folgt kommentiert: "Während jene Forscher, die überall auf dem Mars Wasserspuren suchen (sie sind bei weitem in der Mehrheit), gerne mit Analogien zur wasserreichen Erde argumentieren, müssen diejenigen, die [...] nach alternativen Erklärungen suchen, dazu Prozesse heranziehen, die auf der Erde unbekannt sind und von denen man daher auch entsprechend weniger weiß." Wäre also der Mars so fremdartig, wie es die Planeten Jupiter oder Merkur sind, käme wohl niemand auf die Idee, die Erde als Modell oder sogar Vorbild des Mars zu sehen.

Das Auftreten und Verschwinden der Marskanäle ist eines der größten Kuriositäten der Wissenschaftsgeschichte. An ihr lässt sich viel über menschliche, aber ebenso kommunikative und technische Unzulänglichkeiten im Forschungsbetrieb lernen. Nachdem Ulf von Rauchhaupt unter anderem auf diese Episode der teleskopgestützen Marsforschung eingegangen ist, widmet er sich der "Invasion von der Erde", also den zahlreichen Orbitern und Landegeräten des Raumfahrtzeitalter. Sehr ausführlich beschreibt er die Marslandschaft, ihre Großstrukturen und Zeitalter. Dieser Gang über die Landschaftsformen ist ein echter Höhepunkt und in dieser Art in einem Sachbuch nur selten zu lesen. Als sehr nützlich erweisen sich dafür die beiden doppelseitigen topographischen Karten – sie sind ebenfalls ein echter Pluspunkt.

Nach der bereits erwähnten Frage nach Wasser und Leben auf dem Mars schließt das Buch mit aktuellen Plänen und Schwierigkeiten einer Reise zum Mars. Dabei schließt sich der Kreis, denn wenn der neunte Kontinent erstmal von der Menschheit nicht nur wisenschaftlich, sondern auch physisch erobert wird, ist er endgültig ein Teil der Erde. Gekrönt wird diese Inbesitznahme nur noch durch die Umwandlung des Mars in einen für den Menschen bekömmlichen Planeten, dem bereits erwähnten "terraforming". Dann könnten die einst eingebildeten Marskanäle Wirklichkeit werden und der Irrtum zur Vision.

Bevor er als Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung anheuerte, war Ulf von Rauchhaupt Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik. So trifft in diesem Buch folgerichtig professioneller Schreibstil auf große Sachkenntnis. Neben den bereits erwähnten topographischen Karten ist das Buch mit einer zwölfseitigen farbigen Bildstrecke versehen. Einziges Manko ist, dass im Text auf die Bilder nicht explizit hingewiesen wird. Als sehr nützlich erweist sich das "Areographische Glossar" und das ausführliche Register, denn in diesem Buch wird man immer wieder nachschlagen wollen. Schade ist allerdings, dass der Autor keine Literaturtipps gibt.

Das Buch "Der neunte Kontinent – Die wissenschaftliche Eroberung des Mars" ist jedenfalls ein elegant geschriebenes und informatives Buch über unseren äußeren Nachbarn im Sonnensystem. Auch wenn man sich von der Wassersucht der Marsforscher nicht anstecken lässt und das Terraformen für eine Schnapsidee hält, ist dieses Buch sehr lesenswert, denn wie schreibt Ulf von Rauchhaupt so schön: "Bei der Erforschung des Mars wird wieder unmittelbar spürbar, was Wissenschaft im Kern ist: ein Abenteuer."

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